Nutzen überwiegt Astrazeneca-Impfung: Warum die Risiko-Abwägung schwer fällt

Berlin · In mehreren Bundesländern können sich nach ärztlicher Rücksprache nun alle Erwachsenen mit dem Astrazeneca-Präparat impfen lassen. „Soll ich das tun?“, fragen sich viele nach Berichten über Thrombosen. Über die Schwierigkeiten bei der Risiko-Abwägung.

 Experten kommen zu dem Schluss: Der Nutzen der Impfung überwiegt das Risiko. Dennoch haben einige Menschen beim Astrazeneca-Impfstoff ein ungutes Gefühl. Foto: Marcus Brandt/dpa

Experten kommen zu dem Schluss: Der Nutzen der Impfung überwiegt das Risiko. Dennoch haben einige Menschen beim Astrazeneca-Impfstoff ein ungutes Gefühl. Foto: Marcus Brandt/dpa

Foto: Marcus Brandt

Noch vor einigen Wochen hatten nur die wenigsten Menschen jemals von Sinus- und Hirnvenenthrombosen gehört. Schließlich kommen solche Probleme äußerst selten vor. Dann traten Fälle dieser Hirnthrombosen nach Corona-Impfungen mit dem Präparat von Astrazeneca auf - mehr als statistisch zu erwarten waren.

Etliche Behörden, darunter die europäische Arzneimittelbehörde EMA , nahmen die Fälle unter die Lupe. Ergebnis: Der Nutzen der Impfung überwiege eindeutig das Risiko. „Der Impfstoff rettet Leben“, bilanzierte der leitende EMA-Datenanalytiker Peter Arlett.

In Deutschland soll der Astrazeneca-Impfstoff seit dem 31. März in der Regel nur noch bei Menschen ab 60 Jahren eingesetzt werden. Auch unter 60-Jährige können sich nach Rücksprache mit einem Arzt weiterhin damit impfen lassen. In einigen Bundesländern können sich zudem nun auch Menschen mit Astrazeneca impfen lassen, die nach den Prioritätslisten noch gar nicht dran wären.

Verlorenes Vertrauen

Doch viele haben beim Astrazeneca-Impfstoff ein ungutes Gefühl. Zu Recht? „Durch diese ganzen Medienberichte und die Aufmerksamkeit auf dieses Thema wird das eigene Risiko, an einer Thrombose zu erkranken, eigentlich überschätzt“, sagte die Virologin Sandra Ciesek vom Universitätsklinikum Frankfurt im NDR-Podcast „Das Coronavirus-Update“. Es sei ganz klar, „dass der Impfstoff bei weitem sicherer ist als das Risiko einer Covid-19-Infektion“.

Einen weiteren Aspekt spricht Petra Dickmann, Expertin für Risikokommunikation an. „Menschen sind keine rationalen Wesen“, erläutert die Ärztin. Eine Wahrscheinlichkeit beziehe sich auf eine Gesamtpopulation, „aber es werden individuelle Entscheidungen getroffen: Was mache ich für mich?“.

Heilungschancen bei Hirnthrombosen

In Deutschland wurden bis Mitte April 59 Fälle von Hirnthrombosen nach mehr als 4,2 Millionen Erstimpfungen mit Astrazeneca gemeldet, darunter 12 Todesfälle. Werden solche Thrombosen frühzeitig diagnostiziert und behandelt, stehen die Chancen relativ gut, wieder vollständig zu genesen.

Hirnthrombosen kämen im Schnitt bei etwa einer von 100.000 geimpften Personen vor (0,001 Prozent), geht aus der nun vorgelegten Analyse der EMA-Experten zum Astrazeneca-Präparat hervor. Dabei ist das Risiko Analysen zufolge auch vom Alter abhängig, zudem waren Frauen häufiger betroffen als Männer.

Menschen, die bezüglich einer Impfung unentschieden sind, stellen sich nun möglicherweise die Frage: Ist es für mich wahrscheinlicher, an einer durchs Impfen verursachten Hirnthrombose zu sterben - oder an einer Covid-19-Erkrankung, die durch eine Impfung verhindert worden wäre? Diese Frage lässt sich in absoluten Zahlen nur schwer beantworten, zu viele Faktoren wie beispielsweise das Alter, das eigene Verhalten und das Infektionsgeschehen um einen herum spielen eine Rolle.

Vorteile und Risiken in verschiedenen Altersgruppen

Eine Studie für München ergab für die erste Corona-Welle eine geschätzte Infektionssterblichkeit von 0,86 Prozent (Anteil der Todesfälle bezogen auf alle Infizierten einschließlich der Dunkelziffer). Dabei ist bei älteren Menschen der Anteil der Todesfälle deutlich höher als bei jüngeren. Und es gilt zu beachten, dass die Wahrscheinlichkeit, sich in einem bestimmten Zeitraum überhaupt mit Corona zu infizieren, nicht mit eingerechnet ist: Ein weitgehend allein bleibender Mensch in einem Ort mit geringen Infektionszahlen etwa hat dafür ein weitaus geringeres Risiko als ein Mensch mit vielen Kontakten in einem Ort mit hoher 7-Tage-Inzidenz.

Carsten Watzl, Immunologe vom Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund, geht davon aus, dass selbst eine 20-jährige Frau in der Regel ein höheres Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf als für eine Hirnthrombose nach der Impfung hat.

Bislang am detailliertesten berechneten Forscher der Universität Cambridge anhand britischer Daten die Vorteile und Risiken der Impfung - getrennt für verschiedene Altersgruppen und verschiedene Corona-Inzidenzen. Ihre Resultate: Für 60- bis 69-Jährige in einem britischen Hochrisikogebiet liegt das Risiko, binnen 16 Wochen mit Covid-19 auf eine Intensivstation zu müssen, demnach mehr als 600 Mal höher als das Risiko einer Hirnthrombose nach einer Impfung mit Astrazeneca.

Selbst in der selten schwer betroffenen Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen ist demnach die statistische Wahrscheinlichkeit, bei für Großbritannien mittelhohen Fallzahlen (7-Tage-Inzidenz von 420) binnen 16 Wochen mit Covid-19 auf einer Intensivstation zu landen, doppelt so hoch wie das Risiko für ein Blutgerinnsel im Gehirn nach der Impfung.

Einzige Ausnahme ist die Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen in Kombination mit einer - für britische Verhältnisse - geringen 7-Tage-Inzidenz von 140. Hier liegt das Covid-19-Risiko für den Zeitraum ein wenig niedriger als das impfbedingte Thrombose-Risiko - allerdings nur in den ersten 16 Wochen. Mit zunehmender Dauer des Impfschutzes steige der Nutzen, während das Impfrisiko nur auf die ersten Wochen nach der Impfung begrenzt ist.

Vertrauen zurückgewinnen

„Wichtige Fakten immer wieder darzustellen und zu erklären, ergibt Sinn“, sagt die Kommunikationsexpertin Dickmann. Aber außerdem sei auch Vertrauen wichtig: „Damit man einem Akteur vertraut, muss man von dessen Integrität, Wohlwollen und Expertise überzeugt sein.“

Ist Vertrauen erst einmal verloren, reiche allein die Präsentation von Fakten nicht aus. Dann helfe nur eine übergreifende Kommunikationsstrategie, sagt Dickmann und spricht von einem „Vertrauenstransfer“: „Ich mache es, weil andere, denen ich vertraue, es auch machen.“ Dieser Mechanismus funktioniere gut, werde aber bislang nicht angemessen bedient, sagt sie. Hier könnten etwa Hausärztinnen und -ärzte eine wichtige Rolle spielen.

© dpa-infocom, dpa:210426-99-357170/9

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