Häufige Krankheit bei Kindern und Jugendlichen Bonner Studentin spricht über ihre Essstörung

Bonn · Sie sind eines der häufigsten Krankheitsbilder bei Kindern und Jugendlichen: Essstörungen. Eine betroffene Bonner Studentin erzählt, wie sie versucht, ihre Erkrankung mit Hilfe einer Therapie zu überwinden.

 Die Nahrungsaufnahme wird für Menschen mit einer Essstörung zum Hindernis. Das Bild stammt von der Onlineplattform Ninette, die unter Schirmherrschaft von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe steht.

Die Nahrungsaufnahme wird für Menschen mit einer Essstörung zum Hindernis. Das Bild stammt von der Onlineplattform Ninette, die unter Schirmherrschaft von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe steht.

Foto: Ninette

Es war im Urlaub in Spanien, als die damals 15-jährige Schülerin merkte, dass sie krank war. „Ich hatte auch in der Sonne ein extremes Kältegefühl und lief mit langen Hosen herum. Ich fühlte mich so schwach, dass sogar Treppensteigen schwierig war“, blickt die heute 20-jährige Studentin zurück. Die Haare fielen ihr aus. Sie konnte an keiner Mahlzeit mehr teilnehmen. Plötzlich begriff sie, dass sie inzwischen schon extrem untergewichtig war. Essen sei ihr schon eine ganze Zeit zuvor nur noch eklig gewesen. Sie habe Ausreden erfunden, warum sie kaum aß und trotzdem viel Sport trieb. Konflikte und Stress in der Familie und der Schule hätten sie belastet.

„Ich fühlte mich immer zu dick und war sauer, als meine Mutter sich Sorgen machte“, sagt die Studentin zurückblickend. Seit dem Urlaub sei jedoch klar gewesen: Sie musste endlich einen Arzt aufsuchen. Und das sei schließlich die Rettung für sie gewesen. Die heute 20-Jährige atmet tief durch.

„Im Fall dieser jungen Frau wurde eine Anorexie Nervosa vom restriktiven Typ festgestellt“, erklärt Professorin Judith Sinzig, Chefärztin der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Bonner LVR-Klinik. Anorexie Nervosa bedeutet: Magersucht. Davon gebe es zwei Formen, sagt Sinzig: Beim re-striktiven Typ, der bei dem Mädchen vorlag, werde der Gewichtsverlust ausschließlich über die eigene Einschränkung der Kalorienzufuhr herbeigeführt.

Beim bulimischen Typ kämen zur Gewichtsreduktion Erbrechen oder die Anwendung von Abführmitteln dazu. Nicht zu verwechseln seien diese beiden Formen mit der Ess-Brech-Sucht, auch Bulimia Nervosa genannt. „Hier besteht kein Untergewicht, Symptome sind aber Heißhungerattacken mit anschließendem Erbrechen.“ Alle diese drei Essstörungen können in der LVR-Klinik behandelt werden.

Eine Woche in der geschlossenen Abteilung

Und in die hatte sich die heute 20-Jährige schließlich auch einweisen lassen. Denn sie wusste, dass sie es zu Hause nicht schaffen würde, die vorgeschriebene Auflage (eine kontinuierliche Gewichtszunahme unter ständiger Kontrolle) zu erfüllen. Also sei sie anfangs sogar eine Woche in die geschlossene Abteilung gegangen. „Das hat mir gut getan. Ich habe Abstand gewonnen“, berichtet die Studentin. Über Monate auf der normalen Station habe sie sich mit den Hilfen der Klinik „auf den Weg aus der Krankheit heraus“ gemacht. Da sei es erst einmal um eine gute Aufklärung über das Störungsbild, um eine Gewichtssteigerung und die Normalisierung des Essverhaltens gegangen, erläutert die Chefärztin. Eine Ernährungsberaterin habe zum Team dazugehört.

Sinzig berichtet vom Einsatz einer Körper- und Entspannungstherapie, von der ausführlichen Elternberatung, von einer kurzzeitigen medikamentösen Behandlung mit einem Antidepressivum und einer Einzelpsychotherapie zum Problemkreis Essen und Gewicht. Schließlich habe die Patientin das Mindestgewicht erreicht und in psychotherapeutischen Gesprächen auch ihre wunden Punkte thematisieren können: den Umgang mit familiären Konflikten, die Selbstwertproblematik im Kontakt mit anderen Jugendlichen sowie das Thema Ablösung an der Schwelle zum Erwachsenwerden, erläutert die Chefärztin. „Ich habe es schließlich geschafft, die Angst vor dem Essen zu verlieren“, sagt dazu die Studentin, die nach einer weiteren dreiwöchigen Therapie in der LVR-Tagesklinik endlich wieder in ihren Alltag fand.

Laut Bundesgesundheitsministerium nimmt die Zahl junger, von Essstörungen Betroffener in den letzten Jahren erschreckend zu. Von 100.000 Mädchen im Alter von 15 bis 24 Jahren erkrankten früher 20 an Magersucht. Heute seien es 50. Das Ministerium warnt ausdrücklich vor einem regelrechten Schlankheitsdruck. Der verleite Pubertierende, deren Selbstwertgefühl noch nicht entwickelt sei, dazu, pausenlos Diäten zu durchlaufen. Menschen mit Übergewicht würden dagegen ausgegrenzt. Was wiederum den Zwang erhöhe, zu den in Medien, Werbung oder Modebranche propagierten superschlanken Vorzeige-„Schönheiten“ zu gehören.

Im Verlauf der Erkrankung entwickle der Jugendliche eine völlig gestörte Selbstwahrnehmung. Gerade in Schule, Ausbildung, Beruf und Sport leistungsbewusste junge Leute seien gefährdet. Sie sollten Hilfe suchen, wenn Warnzeichen wie starke Gewichtsverluste oder Erbrechen nach dem Essen aufträten.

Die Erfolgschancen einer Therapie sind gut

„Wir brauchen eine gesetzliche Regelung zum Schutz vor Magersucht“, sagte SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach jüngst dem „Spiegel“: „Es gibt kaum eine Erkrankung bei jungen Frauen, die eine so hohe Sterblichkeitsrate hat wie Magersucht – und die Heilungschancen sind gering.“ In der Politik wachse die Bereitschaft, gegen den Schlankheitswahn in der Modeindustrie vorzugehen, schreibt das Magazin. „Size-Zero-Models gaukeln ein Ideal vor, welches weder ästhetisch noch gesund ist – mit gefährlichen Langzeitschäden für Körper und Seele bis hin zum Tod“, sagt etwa Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), Ministerpräsidentin des Saarlandes.

Die Münchener Selbsthilfeorganisation Anad (Anorexia Nervosa and Associated Disorders) warnt Gefährdete ebenfalls davor, eine letztlich lebensbedrohliche Unterernährung mit schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen zu riskieren. Störungen der Fruchtbarkeit, Haarausfall, Osteoporose, häufiges Frieren, Nierenschäden, Herz-Kreislauf-Störungen, Ohnmachtsanfälle, Störungen im Magen-Darm-Bereich und Zahnschäden seien die Folgen. Begleitet würden diese oftmals von depressiver Verstimmung oder selbstverletzendem Verhalten.

Mehr als fünf Prozent der Betroffenen stürben an der Erkrankung, mahnt auch der Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen. Gerade die Familien Betroffener sollten dabei akzeptieren, dass sie selbst die Erkrankung ihrer Kinder nicht behandeln könnten. Die Therapie müssten Profis leisten: Ärzte und Psychotherapeuten. Die Familien könnten nur helfen, wenn sie genau diese Therapie aktiv unterstützten.

In der LVR-Klinik Bonn werden pro Jahr rund 70 Kinder und Jugendliche mit Essstörungen sowohl ambulant, teil-stationär als auch stationär behandelt, rechnet Chefärztin Sinzig vor. Eine Hochrisikogruppe stellten Hochleistungssportler, Fotomodelle oder auch Ballett-Tänzerinnen dar. „Hier steigt die Prävalenz auf 25 Prozent“, sagt Sinzig. „Wir sehen Essstörungen bei diesen Mädchen bereits ab dem Alter von 11 bis 12 Jahren.“ Der Erkrankungsgipfel liege statistisch gesehen bei 14 Jahren. Bis zum 13. Lebensjahr würden die Patienten auf der Kinderstation behandelt und bis zum 18. Lebensjahr ebenfalls in der Klinik. Ab dem 18. Lebensjahr übernähmen dann psychosomatische Kliniken für Erwachsene die Behandlung. Auf zehn erkrankte Mädchen komme im Schnitt ein Junge.

Frühzeitige Behandlung ist wichtig

Wann genau müssen denn Patienten stationär therapiert werden? Wie im Fall der Studentin dann, wenn sie ihr Essverhalten nicht eigenverantwortlich normalisieren und nicht zunehmen können, sagt Sinzig. „Die ausreichende Gewichtssteigerung liegt bei 500 bis 1000 Gramm pro Woche.“ Wer regelmäßig die Schule besuche, bei dem sei sogar ein höherer Kalorienverbrauch anzusetzen. Die Erfolgschancen der Therapie seien gut, erklärt die Chefärztin.

Allerdings sei eine frühzeitige Behandlung bis zum Erreichen des Mindestgewichtes notwendig, wie Langzeitstudien zeigten. „Essstörungen können bei ausbleibender Behandlung auch zum Tod führen.“ Bei einer regelmäßigen ambulanten Psychotherapie auch im Anschluss an die stationäre Behandlung könne jedoch von einer Heilungschance von 70 bis 80 Prozent ausgegangen werden, sagt Sinzig. „Diese Chance sollte doch jeder an Magersucht erkrankte Mensch er-halten.“

Die heute 20-jährige Studentin jedenfalls hat inzwischen im Leben wieder Fuß gefasst. „Die erste Zeit nach der Klinik war grauenvoll“, sagt sie zurückblickend. Sie hatte ein wichtiges halbes Jahr in der Schule verpasst, das sie aber nachzuholen schaffte. Nach einiger Zeit habe sich auch der Kontakt zu den Freundinnen wieder gefestigt. Ihr gelang es, einen festen Essplan und regelmäßige Gewichtskontrollen einzuhalten. „Ich bin meiner Mutter sehr dankbar, dass sie immer an mich geglaubt hat“, sagt die 20-Jährige. Sie befinde sich jetzt, so sagen es die Ärzte, nach der akuten noch in der latenten Phase der Erkrankung und halte sich an die Vorgaben. „Aber inzwischen lebe ich mein Leben. Ich bin nicht mehr in der Krankheit gefangen.“

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