„Den Alltag vergessen“ Cannabis und Corona: Besser ein Tütchen drehen als am Rad?

Frankfurt/Main · Nach dem ersten Lockdown gab ein Drittel der Konsumenten an, mehr zu kiffen als vor der Pandemie. Wie hat sich das während der zweiten Welle entwickelt?

 Nach dem ersten Lockdown 2020 gab in einer Online-Befragung rund ein Drittel der regelmäßig Konsumierenden an, dass sie mehr konsumiert hätten als zuvor. Foto: picture alliance / Oliver Berg/dpa

Nach dem ersten Lockdown 2020 gab in einer Online-Befragung rund ein Drittel der regelmäßig Konsumierenden an, dass sie mehr konsumiert hätten als zuvor. Foto: picture alliance / Oliver Berg/dpa

Foto: Oliver Berg

Beim Gang durch Stadt oder Park steigen dem Passanten vielerorts süßliche Schwaden in die Nase. Wird seit Corona mehr gekifft?

Hinweise darauf gibt es, wie Befragungen des Centre for Drug Research an der Frankfurter Goethe-Universität nahelegen, die der Deutschen Presse-Agentur exklusiv vorliegen. Allerdings gibt es auch Faktoren, die den Konsum eindämmen, wie Drogenforscher Bernd Werse erklärt.

Vor Corona standen die Zeichen auf Entspannung. Cannabiskonsum war 2019 bei Jugendlichen deutlich weniger verbreitet als in den Vorjahren. „Nur noch jede und jeder dritte Jugendliche gab an, mindestens einmal im Leben Cannabis konsumiert zu haben“, hieß es in dem Anfang März veröffentlichten „Monitoring System Drogentrends“ (MoSyD) für das Jahr 2019.

Gruppe der Intensivkonsumenten wächst

Die sogenannte Lebenszeit-Prävalenz (die Bereitschaft, es auszuprobieren) erreichte den Wissenschaftlern zufolge sogar „ihren Tiefstwert seit Beginn der Befragung im Jahr 2002“. Für die jährliche MoSyD-Studie werden einmal jährlich über 1500 Schülerinnen und Schüler aller Schulformen befragt. Es ist die einzige Erhebung dieser Art in Deutschland.

Nach einem Jahr Corona erwartet das Drogenreferat mit Spannung die Zahlen für 2020. „Was uns umtreibt, ist die Frage, wie sich die Pandemie vor allem auf den Konsum von Jugendlichen aus sozial schwachen Familien auswirkt“, sagt Oliver Krause vom Drogenreferat Frankfurt. „Unsere Sorge ist, dass die Gruppe der Intensivkonsumenten wächst.“

Anlass zu dieser Annahme geben die Gründe, die Jugendliche bei MoSyD für ihren Drogenkonsum nennen. Auf Platz eins liegt stets Neugier, gefolgt von „den Alltag vergessen“ und „etwas Neues und Aufregendes erleben“. Wenn es wegen der Kontaktbeschränkungen wenig Aufregendes zu erleben gibt, aber viel Grund, den langweiligen Alltag zu vergessen, könnte das den Griff zum Joint attraktiver machen, schätzt das Drogenreferat.

Weniger Anlässe in der Corona-Pandemie

Allerdings gebe es in der Pandemie auch limitierende Faktoren, gibt Drogenforscher Werse zu bedenken: Wer weniger Kontakte hat, hat auch weniger Kontakt zu Drogen. „Wir wissen, dass es hauptsächlich von der Art und der Intensität der Kontakte abhängt, wie viel und was Jugendliche konsumieren“, sagt der Sozialpädagoge. Im Lockdown habe es nicht nur weniger Treffen und damit weniger Anlässe gegeben, sondern auch weniger Gelegenheiten, sich Drogen zu besorgen.

Werse hält es daher „für nicht besonders plausibel“, dass während Corona mehr Jugendliche aus Langeweile angefangen haben zu kiffen. Allerdings deute vieles auf eine Intensivierung hin: „Die Tendenz geht in diese Richtung“, sagt Werse: „Wer schon vorher Cannabis konsumiert hat, hat seinen Konsum gesteigert.“

Nach dem ersten Lockdown 2020 gab in einer Online-Befragung rund ein Drittel der regelmäßig Konsumierenden an, dass sie mehr konsumiert hätten als zuvor. Nur ein Sechstel sagte, sie hätten in dieser Zeit weniger gekifft. „Mit zunehmender Dauer der Beschränkungen stieg auch der Anteil jener, die angaben, mehr zu konsumieren“, heißt es zusammenfassend in einem Aufsatz in der Zeitschrift „Suchttherapie“. Die Experten hatten 1146 vollständig ausgefüllte Online-Fragebögen ausgewertet.

Noch fehlen harte Daten, wie sich die Zahlen im zweiten Lockdown entwickelt haben. Die Wiederholung der Online-Befragung legt jedoch nahe, dass es in die gleiche Richtung geht. 3456 Personen haben an der Befragung teilgenommen. Das Durchschnittsalter lag bei knapp 28 Jahren, 91 Prozent waren Männer, 34,5 Prozent lebten auf dem Land.

Täglicher Cannabis-Konsum nimmt zu

Die Ergebnisse sind noch nicht publiziert, liegen der dpa aber in Auszügen vor. Vor der Pandemie konsumierten von den teilnehmenden Konsumenten laut eigener Angabe 38 Prozent täglich Cannabis, während der Pandemie waren es 47 Prozent. Die Wissenschaftler fragten auch gezielt, wann der Anstieg am größten war: War es mehr im ersten oder im zweiten Lockdown oder in der Phase dazwischen? „Der höchste Wert für „mehr geworden“ zeigt sich mit 39 Prozent beim zweiten Lockdown“, berichtet Werse.

Die Polizei hat bisher keine Zunahme des Konsums von Cannabis registriert. In Frankfurt zum Beispiel wurden 2019 nach Angaben des Polizeipräsidiums 4093 Cannabis-Verstöße festgestellt, 2020 waren es nur 3736. „Mit Blick auf die Corona-Pandemie dürfte dies unter anderem mit dem geringeren Personenaufkommen in der Öffentlichkeit zusammenhängen, da es sich bei den Delikten rund um den Besitz von Betäubungsmitteln um Kontrolldelikte handelt“, erklärt ein Sprecher. Strafbar sind nur der Handel und der Besitz, nicht aber der Konsum.

© dpa-infocom, dpa:210322-99-925101/2

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