Zu müde zum Leben Das Chronische Erschöpfungssyndrom - eine unterschätze Krankheit

Bonn · Das Chronische Erschöpfungssyndrom ist eine unbekannte wie unterschätzte Krankheit, die nur von wenigen Experten ernst genommen wird. Dabei bedeutet sie für Betroffene eine grundlegende Veränderung des Lebens.

 Für Betroffene ist das Chronic Fatigue Syndrome eine ungeheure Belastung.

Für Betroffene ist das Chronic Fatigue Syndrome eine ungeheure Belastung.

Foto: picture alliance / dpa

Kraftlosigkeit, Erschöpfung, Ausgelaugtheit – Symptome, die die meisten Menschen nach einem besonders anstrengenden Arbeitstag verspüren, gehören für Nina N. zum täglichen Leben. Es gab Zeiten, da schaffte es die 37-jährige Rollstuhlfahrerin noch bis auf den Balkon oder vor die Haustür. Doch diese Zeiten liegen für Nina schon viele Jahre zurück.

Seit 2011 fesselt sie ihre Krankheit ans Bett, 24 Stunden am Tag. Alltägliche Dinge sind für sie zu nicht mehr zu bewältigenden Herausforderungen geworden. Das Zimmer verlassen, ein Buch lesen, zur Toilette gehen – für all diese Dinge fehlt ihr die Kraft. Nur an guten Tagen können ihr im Bett die Haare gewaschen werden.

Mit diesen und unzähligen weiteren Schwierigkeiten kämpft Nina seit fast zehn Jahren. Sie ist nur eine von schätzungsweise 300.000 bis 400.000 Menschen, die in Deutschland am sogenannten Erschöpfungssyndrom oder Myalgischer Enzephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS) leiden, einer immer noch verkannten Krankheit, für die es bislang noch keine Heilung gibt.

Die US-amerikanische Nationale Akademie der Medizin (NAM) deklarierte das Chronic Fatigue Syndrome als schwere, chronische, komplexe Multisystemerkrankung. Deren Ursachen liegen im Dunkeln. So werden in aktuellen Forschungsberichten immunologische, virologische, neuroendokrinologische und autoimmune Auslöser diskutiert.

Professor Carmen Scheibenbogen, Spezialistin für Immundefekte an der Charité in Berlin, vermutet eine gestörte Regulation des Immunsystems. „CFS ist ein Krankheitsbild mit vielen unterschiedlichen Ausprägungen“, sagt Scheibenbogen. Neben einer schweren körperlichen und geistigen Erschöpfung können unzählige weitere Beschwerden auftreten.

Die Krankheit betrifft mehr Menschen als Aids

„Ganz charakteristisch für das Krankheitsbild ist die Belastungsintoleranz“, erklärt die Ärztin. Diese bedeutet eine Verschlimmerung der Symptome, die vollkommen disproportional zu den zuvor verrichteten körperlichen oder geistiger Anstrengungen steht und mehrere Tage bis Monate anhalten kann. CFS ist ein chronisches Krankheitsbild, das die Patientenvereinigung Bündnis ME / CFS in seiner Schwere mit Aids oder Multipler Sklerose (MS) vergleicht.

Doch wodurch wird diese schlimme Krankheit ausgelöst? In den meisten Fällen beginnt es mit einem einfachen viralen oder bakteriellen grippalen Infekt. Doch statt baldiger Besserung entwickelt sich ein chronisches Krankheitsbild. Betroffene berichten häufig, dass Besuche bei Ärzten zu keiner Erkenntnis führen und sie als vollkommen gesund eingestuft werden.

Sie werden unverrichteter Dinge nach Hause geschickt oder müssen unter den Folgen von Fehlbehandlungen leiden. Denn falsche Medikamente und Überbelastung können zu dauerhafter Zustandsverschlechterung führen. Nicht selten bekommen Patienten zudem psychiatrische Diagnosen. Sie gelten als Hypochonder oder Simulanten.

Für eine Krankheit, an der kanadischen Experten zufolge mehr Menschen erkrankt sind als an Aids, Brustkrebs oder Lungenkrebs, gibt es in Deutschland nur sehr wenige, meist privat tätige Ärzte. Aufgrund der mangelhaften Aufklärung kann die Suche nach der richtigen Diagnose mehrere Jahre dauern.

Erst müssen andere Erkrankungen ausgeschlossen werden

Zudem kann ME/CFS nicht mittels Laboruntersuchungen identifiziert werden. Stattdessen müssen zuvor eine Vielzahl anderer Erkrankungen ausgeschlossen werden, „denn Fatigue ist ein häufiges Symptom, an dem zum Beispiel auch Menschen mit Depressionen, Herz- oder Nierenproblemen leiden“, sagt Scheibenbogen. Erst wenn die krankheitsspezifischen Kriterien vorliegen, dann kann die richtige Diagnose gestellt werden.

Doch auf die Erleichterung, endlich einen Namen für das Leiden zu haben, folgt eine bittere Erkenntnis: Eine wirksame Behandlung ist meist nicht möglich. Dies ist vor allem der mangelnden Finanzierung der ME/CFS-Forschung geschuldet. Die immer noch in Deutschland und auch weiten Teilen der Welt verkannte Krankheit wird fast komplett übersehen.

Professorin Scheibenbogen sagt, ME/CFS erhalte im Vergleich zu anderen, zum Teil auch selteneren Krankheiten deutlich weniger finanzielle Unterstützung. Immerhin: Ein kleiner Erfolg kommt aus Norwegen. Eine Studie mit dem monoklonalen Antikörper Rituximab führte bei zwei Dritteln der Probanden zur dauerhaften Zustandsverbesserung.

Durch die starke Minderung der Lebensqualität, die die Krankheit mit sich bringt, neigen Betroffene häufig zur Ausbildung von Depressionen. Daher ist es wichtig, ME/CFS so früh wie möglich symptomorientiert zu behandeln. Mit Medikamenten können Schmerzen, Schlafbeschwerden, Infekte und Konzentrationsstörungen bekämpft werden. Viele Patienten entwickeln zudem Defizite, die ersetzt werden müssen, zum Beispiel an Vitaminen, Eisen oder Zink. Zur Stressbewältigung empfiehlt Scheibenbogen autogenes Training oder meditative Verfahren.

Auch psychologische Betreuung kann zur Zustandsverbesserung führen. Ganz bedeutend ist zudem das Vermeiden von Überlastung, die zur Zunahme der Beschwerden führt. „Es ist wichtig, dass der Patient die Krankheit versteht und lernt, sich selbst einzuschätzen. Er muss lernen, Dinge zu vermeiden, die die Krankheit verschlechtern“, erklärt Scheibenbogen.

Für die Betroffenen bedeutet ME/CFS jedoch weit mehr als nur körperliche Probleme; sie stehen auch vor dem Aus ihres beruflichen Lebens. Das hat auch Nina N. erfahren. Ihren Job musste sie bereits wenige Wochen nach Krankheitsbeginn aufgeben. Andere schleppen sich so lange ins Büro, bis sie schließlich zusammenbrechen. Der Verlust des Jobs ist für ME/CFS-Erkrankte eher die Regel als die Ausnahme. Hiermit einher gehen oft finanzielle Probleme.

Bis heute ist weder Ursache noch Heilung bekannt

Aufgrund der Arbeitsunfähigkeit sind Betroffene meist auf die Hilfe des Sozialamtes angewiesen. Doch diese bleibt in der Regel aus, berichten Erkrankte immer wieder. Auch hier gelten sie häufig als Hypochonder, als eingebildete Kranke. Nicht selten führt der ständige Kampf um finanzielle Ansprüche zu einer Zustandsverschlimmerung. Statt Unterstützung erfahren sie Ablehnung und Unverständnis. Nina hat Glück: Sie bekommt inzwischen eine Erwerbsunfähigkeitsrente, doch so geht es längst nicht allen. Dabei brauchen Betroffene das Geld dringend für verschreibungspflichtige Medikamente und teure Therapien, für die die Krankenkassen nicht aufkommen wollen.

Nicht nur von Krankenkassen, Ämtern und Ärzten werden ME/CFS-Erkrankte oft im Stich gelassen, sondern sogar von Freunden. Sätze wie „Mach mehr Sport, dann wirst du wieder fit“ oder „Schlaf dich mal richtig aus“ zeigen das generelle Unverständnis allzu deutlich. Im Lauf der Erkrankung werden die angeblichen „Hypochonder“ daher häufig von Freunden und Partnern verlassen. Die Unterstützung, die Nina täglich von ihrem Mann und ihrer an Krebs leidenden Mutter bekommt, ist bei ME/CFS-Kranken alles andere als selbstverständlich. Zudem lässt die voranschreitende Krankheit selbst Telefonate oder kurze Gespräche zu gewaltigen Herausforderungen anwachsen.

Für Nina zum Beispiel ist es nur an außergewöhnlich guten Tagen möglich, Besuch zu empfangen. Häufig aber fehlt ihr abends schon die Kraft, auch nur ein Wort mit ihrem Mann zu wechseln. „Die Krankheit macht unglaublich einsam“, erzählt sie. Am Schwersten findet sie, dass sie versucht zu kämpfen, für ihre Anstrengungen aber mit schlimmen Rückfällen bezahlen muss. Dabei würde sie gerne mit allem, was noch da ist, am Leben teilnehmen. Stattdessen bemüht sie sich, jegliche Anstrengung zu vermeiden.

„Es ist wie eine Gefängnisstrafe ohne Hofgang. Und niemand weiß, wie lange sie dauern wird. Vielleicht lebenslänglich.“ Trotz allem: Nina hat ihren Lebenshunger nicht verloren. Sie träumt von Genesung, sie träumt davon, wieder rausgehen zu können, wieder zu tanzen, wieder selbstständig zu sein. Das Leben „draußen“ vergisst sie keinen Tag. „Wenn ich morgen wieder nach draußen könnte, und sei es auch im Rollstuhl, völlig egal, würde ich als allererstes in den Wald eilen wollen. Und meine Freunde wiedersehen und mit ihnen reden und reden, bis wir auf ganz normale Weise irgendwann davon erschöpft wären.“

Kraft zum Weiterleben dank kurzer "Atempausen"

Angesichts ihrer schweren Erkrankung erscheint Ninas Lebensfreude kaum vorstellbar. Auch die Britin Emily Collingridge, die nach 24 Jahren der Krankheit erlag, ließ die Lebensfreude nie los. Aus Zeiten kurzer „Atempausen“, in denen viele ihrer Beschwerden zurückgingen, schöpfte sie die Kraft zum Weiterleben. Dabei gehört ihre Geschichte zu den schlimmsten bekannten Krankheitsfällen. ME/CFS machte sie nicht nur hypersensibel gegenüber Licht, Geräuschen und Berührungen. Auch Gerüche, Vibrationen oder das Wetter konnten der Auslöser für rasende Kopfschmerzen und schwere Übelkeit sein.

Ihre Geschichte, die sie kurz vor ihrem Tod veröffentlichte, verfasste sie daher in einem isolierten und abgedunkelten Raum. Ein Satz pro Tag trieb sie dabei regelmäßig an ihre Grenzen. Zu diesem Zeitpunkt litt sie an mehr als 100 Symptomen, einschließlich zeitweise auftretender Blindheit, Taubheit und Körperlähmungen.

„ME hat meinen Körper zu einem quälenden Gefängnis gemacht“, erzählte sie. Dennoch zwang sie sich zum Weiterschreiben, um auf ihre Krankheit aufmerksam zu machen und den Mangel an Forschung und Unterstützung zu kritisieren. Mit einem dringlichen Appell richtete sie sich am Tiefpunkt ihres Lebens an Regierungen, Mediziner und Geldgeber: „Bitte setzen Sie dem ein Ende, dass Menschen mit schwerer ME vollkommen verlassen sind, und geben Sie uns einen wirklichen Grund zur Hoffnung.“

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