Kinder und Mobilgeräte Handy an, Gebrüll aus, Schaden perfekt

BONN · Ob der Dreijährige wütend auf den Boden einschlägt oder die Vierjährige im Zug dauerquengelt – eine Maßnahme hilft quasi immer: den Nachwuchs daddeln lassen. Doch sie sollte die Ausnahme bleiben, warnen Forscher: Denn mit Handy oder Tablet in der Hand lernen Kinder es schlechter, mit ihren überbordenden Gefühlen umzugehen

Parken wir den kleinen Quälgeist   doch einfach vor dem Handy: „Die Verwendung von Mobilgeräten zur Beruhigung von Kleinkindern mag wie ein zeitlich begrenztes Mittel erscheinen, um den Stress  im Haushalt zu reduzieren, aber es kann langfristige Folgen haben, wenn dies eine regelmäßige Beruhigungsstrategie ist“, sagt Jenny Radesky, Kinderärztin an der University of Michigan  X   Foto: dpa

Parken wir den kleinen Quälgeist doch einfach vor dem Handy: „Die Verwendung von Mobilgeräten zur Beruhigung von Kleinkindern mag wie ein zeitlich begrenztes Mittel erscheinen, um den Stress im Haushalt zu reduzieren, aber es kann langfristige Folgen haben, wenn dies eine regelmäßige Beruhigungsstrategie ist“, sagt Jenny Radesky, Kinderärztin an der University of Michigan X Foto: dpa

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Der Alltag hält etliche Situationen bereit, in denen Kleinkinder quengeln oder wütend werden. Es gibt eine ebenso leichte wie schnell wirksame Lösung: Dem Nachwuchs wird das Handy oder Tablet in die Hand gedrückt. Diese Strategie ständig einzusetzen, kann allerdings Folgen für das Verhalten haben, warnen US-Forscherinnen und -Forscher jetzt im Fachjournal JAMA Pediatrics. Den Kindern fehle das Üben emotionaler Bewältigungsstrategien, das entstehende Defizit sei später schwer auszumerzen. Fatalerweise ist der Zusammenhang bei bereits hyperaktiven und aufbrausend temperamentvollen Kindern – bei denen die Versuchung für ein schnelles Ruhigstellen wohl besonders groß ist – am stärksten ausgeprägt, wie das amerikanische Forscherteam schreibt.

Geräte verdrängen die natürliche Entwicklung

Die Fähigkeit, die eigenen Emotionen zu regulieren, ist den Experten zufolge unter anderem wichtig für den Schulerfolg und für ein erfolgreiches Miteinander mit Gleichaltrigen. „Die Verwendung von Mobilgeräten zur Beruhigung von Kleinkindern mag wie ein harmloses, zeitlich begrenztes Mittel erscheinen, um den Stress im Haushalt zu reduzieren, aber es kann langfristige Folgen haben, wenn dies eine regelmäßige Beruhigungsstrategie ist“, sagt die Hauptautorin Jenny Radesky, verhaltenstherapeutische Kinderärztin an der University of Michigan in Ann Arbor. „Besonders in der frühen Kindheit können Geräte die Entwicklung ­­unabhängiger und alternativer Methoden zur Selbstregulierung verdrängen.“

Die Busfahrt dauert noch, doch der Nachwuchs beginnt zu quengeln und die anderen Fahrgäste gucken schon. Die Dreijährige hat Hunger und partout keine Lust, die fünf Minuten bis daheim noch abzuwarten – sie brüllt im Kinderwagen vor sich hin. Das Essen ist noch nicht fertig oder das Telefongespräch wichtig, doch Sohnemann möchte auf keinen Fall alleine spielen. Was er ausdauernd und lautstark kundtut. Wohl alle Eltern kennen es, dass die lieben Kleinen einem die Schweißperlen auf die Stirn treiben vor Stress in den vielen Situationen, in denen sie über etwas wütend sind oder noch warten müssen, aber nicht wollen. Und wohl fast alle Eltern haben dann schon das Handy oder Tablet gezückt, um den Nachwuchs mit Bildern oder Filmchen abzulenken und ruhigzustellen. Das funktioniert oft tadellos.

Dass die Zeit vom Kindergarten bis zur Vorschule eine Entwicklungsphase ist, in der Kinder mit größerer Wahrscheinlichkeit schwierige Verhaltensweisen wie Wutanfälle, Trotz und starke Emotionen zeigen, könne den Einsatz von Geräten als Erziehungsstrategie noch verlockender machen, erläutert das Team um Radesky.

Negative oder schwierige Verhaltensweisen der Kinder auf diese Weise schnell und effektiv zu reduzieren, fühle sich für Betreuende und Betreute gleichermaßen gut an – die Motivation, unliebsame Situationen immer wieder auf diese einfache Weise zu bewältigen, steige, erklärt Radesky. Doch dadurch kann eine große Lücke entstehen: Kinder lernen schlechter, ihre Emotionen eigenständig zu zügeln, unangenehme Situationen auch mal auszuhalten, überbordende Gefühle selbst in den Griff zu bekommen.

Smartphones als „Beruhigungsmittel“

In ihre Studie bezogen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 422 Eltern und 422 Kinder im Alter von 3 bis 5 Jahren ein. Erfasst wurde, wie oft Geräte wie Smartphones und Tablets als Beruhigungsmittel verwendet wurden. Dieser Wert wurde zu Anzeichen emotionaler Reaktivität (Impulsivität, Sensibilität) oder Dysregulation (unangemessene Reaktionen) über einen Zeitraum von sechs Monaten in Beziehung gesetzt. Eine häufige Verwendung von Geräten stand mit einer verstärkten emotionalen Dysregulation insbesondere bei Jungen in Verbindung.

Die Ergebnisse deuten auch darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen „Gerätekonsum“ und emotionalen Folgen bei Kindern besonders ausgeprägt ist, die bereits impulsiv, temperamentvoll und hyperaktiv sind – die also ohnehin schon Probleme mit emotionalen Bewältigungsstrategien haben.

„Eltern sollten ihren Kindern Emotionsregulierung beibringen und nicht von ihr ablenken“, sagt Ralph Schliewenz vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP), der selbst nicht an der Analyse beteiligt war. Das Studienergebnis überrasche nicht. Das Altersfenster von drei bis fünf Jahren sei bei der kindlichen Entwicklung entscheidend dafür, den Umgang mit den eigenen Gefühlen zu erlernen – neben den Eltern spielten hierfür auch Erzieher und Erzieherinnen eine wichtige Rolle. „Jedes negative Gefühl – nicht nur Wut – macht aggressiv, wenn ich es nicht zu regulieren weiß.“ Spätestens in der Schule gebe es dann Probleme.

Früher Bonbons, heute Tablet

Heute seien Smartphone oder Tablet das Mittel der Wahl, neu sei der Einsatz kritisch zu sehender Beruhigungsmittel aber keineswegs: „Früher wurden Bonbons, Schokolade oder andere meist kalorienreiche Snacks verwendet“, erklärt der Soester Psychologe Schliewenz. Auch das sei keine gute Idee gewesen. „Dass ich etwas essen muss, um mich beruhigen zu können, kann auch zum erlernten Verhalten werden.“ Zwar könne man sich auch nach der entscheidenden Lernphase noch abgewöhnen, für die Regulation von Gefühlen ein Gerät oder einen Snack zu benötigen. „Aber es kann sehr lange dauern, das wieder aufzulösen.“

Wenn die Kinder mit den Jahren immer mehr Medien nutzten, drohe sich die Gewohnheit sogar noch zu verstärken, Geräte zur Bewältigung von Emotionen oder Situationen zu verwenden, sagt Radesky. „Je häufiger die Geräte genutzt werden, desto weniger Übung haben die Kinder – und ihre Eltern – im Umgang mit anderen Bewältigungsstrategien.“

Tipp für Eltern: Ersatz anbieten

Doch was tun, wenn der Nachwuchs nicht aufhört zu quengeln und die Nerven blank liegen? Radesky hat dafür eine Reihe von Tipps parat: Statt negatives Verhalten einfach nur stoppen zu wollen, sei es gut, Ersatz anzubieten. Hilfreich könnten sensorische Reize sein – Knetmasse oder eine Schneekugel seien zum Beispiel mögliche Mittel. Vielen Kindern helfe es, ihre Energie in Bewegung kanalisieren zu können. Nach Hause zu hüpfen etwa kann vom Hunger im Bauch ablenken. Und ein Kissen zu schlagen ist besser als seine Wut an Mama auszulassen.

Zudem sollten Eltern die jeweilige Emotion ihres Kindes benennen, rät Radesky. Das helfe Kleinkindern, eine Verbindung zwischen Sprache und Gefühlen zu schaffen, und es zeige ihm, dass es verstanden und wahrgenommen werde. Und, so schwer umzusetzen das mitunter wohl auch ist: Je besser es Eltern gelinge, in solchen Situationen selbst ruhig zu bleiben, desto besser vermittelten sie, dass Gefühle eine handhabbare Sache sind. Die bei den stetigen Wiederholungen solcher Situationen aufgebauten Fähigkeiten zur Emotionsregulierung halten Radesky zufolge ein Leben lang.

Am Ende Stressauf- statt -abbau

Wie wichtig die angeleitete und regulierte Nutzung von Geräten wie Smartphone und Computer ist, haben schon zahlreiche Studien gezeigt. Aktuell weist eine im Journal of Adolescent Health veröffentlichte US-Studie auf eine mögliche Verbindung von Bildschirmzeit mit Zwangsstörungen bei Kindern hin. „Kinder, die übermäßig viel Zeit mit Videospielen verbringen, berichten, dass sie das Bedürfnis haben, immer mehr zu spielen, und dass sie trotz aller Versuche nicht aufhören können“, sagt Hauptautor Jason Nagata von der University of California in San Francisco. Algorithmen und Werbung könnten zwanghaftes Verhalten noch verstärken.

Die Forscher hatten für 9204 Kinder im Alter von 9 bis 10 Jahren erfasst, wie viel Zeit sie auf verschiedenen Plattformen verbrachten. Der Durchschnitt lag bei 3,9 Stunden pro Tag. Nach zwei Jahren hatten nach Angaben betreuender Personen gut vier Prozent der Teenager eine neu aufgetretene Zwangsstörung entwickelt. Videospiele und Streaming-Videos ließen sich jeweils mit einem höheren Risiko dafür in Verbindung bringen – ein ursächlicher Zusammenhang wurde damit allerdings nicht bewiesen.

Auch hier gibt es demnach das Phänomen, dass Abhilfe für die Bewältigung von Gefühlen beim Gerät gesucht wird: Videospiele könnten Aggressionen enthalten, die den Stress des Nutzers erhöhen, erläutert das Team um Nagata. Für damit verbundenes Unbehagen und Angst werde teils weitere Bildschirmzeit als Bewältigungsmechanismus genutzt. Auch das Bedürfnis nach perfekten Punktzahlen und immer neuen Bestmarken könne zum Zwang werden.

Dramatischer Anstieg der Bildschirmzeit

„Zwänge stellen erfolglose Versuche dar, Emotionen – meist Ängste – zu regulieren, und sind für Kinder typisch“, erklärt Schliewenz. „Wie die Studie eindrücklich zeigt, können sie sich relativ schnell zu echten Störungen entwickeln, wenn es an angemessenen Alternativen fehlt.“

Die frühe Adoleszenz sei ein kritischer Zeitraum für das Auftreten von Zwangsstörungen, geben auch die Forscherinnen und Forscher um Nagata zu bedenken. Auch vor diesem Hintergrund sei der vielfach dramatische Anstieg der Bildschirmzeit bei Jugendlichen im Zuge der Corona-Pandemie kritisch zu sehen. Es sei wichtig, schon Kindern im Grundschulalter digitale Kompetenz zu vermitteln und Bildschirm-Nutzungszeiten zu beschränken.

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