Raus aus der Tabuzone Patientenkolloquium des Universitätsklinikums Bonn

Bonn · Beim nächsten Patientenkolloquium des Universitätsklinikums Bonn zum Thema Urogynäkologie geht es um Funktionsstörungen und Erkrankungen des weiblichen Beckenbodens. Probleme und Erkrankungen, deren Ursache im Beckenboden liegen, die die ableitenden Harnwege, die Ausscheidungs- oder auch die Geschlechtsorgane betreffen, sind gemeinhin mit einem Tabu behaftet.

   Blick auf die im Becken liegenden , harnableitenden Organe und die sie umgebenden Muskeln des Beckenbodens   .

Blick auf die im Becken liegenden , harnableitenden Organe und die sie umgebenden Muskeln des Beckenbodens .

Foto: Rolf Müller/UKB

Es gibt salonfähige Gesundheitsthemen wie Rücken- oder Kopfschmerzen, über die sich ohne Weiteres jederzeit ein Gespräch beginnen lässt. Und es gibt – den Angaben der Deutschen Kontinenzgesellschaft zufolge – bundesweit rund neun Millionen Menschen mit Harn- und Stuhlinkontinenz, von denen (zu) viele über die Einschränkungen ihrer Lebensqualität, ihre Beschwerden oder auch Schmerzen lieber schweigen.

Ob es sich um eine Belastungsinkontinenz handelt, die sich beim Niesen, Husten, Heben oder Treppensteigen bemerkbar macht, um eine Drangblase, um eine Entleerungsstörung oder auch eine spürbare Senkung: Probleme und Erkrankungen, deren Ursache im Beckenboden liegen, die die ableitenden Harnwege, die Ausscheidungs- oder auch die Geschlechtsorgane betreffen, sind gemeinhin mit einem Tabu behaftet. „Das führt dazu, dass viele der Betroffenen erst dann ärztlichen Rat einholen, wenn der persönliche Leidensdruck kaum mehr zu ertragen ist“, beklagt Professor Alexander Mustea, Direktor der Klinik für Gynäkologie und Gynäkologischen Onkologie am Universitätsklinikum Bonn.

Selbst, was sich nicht heilen lässt, lässt sich doch fast immer verbessern

„Dabei gibt es viele Optionen, um diesen Patientinnen zu helfen. Und selbst, was sich nicht heilen lässt, lässt sich doch fast immer verbessern“, sagt Professorin Ruth Kirschner-Hermanns, Fachärztin für Urologie und Andrologie. Leiterin der Neuro-Urologie des Universitätsklinikums Bonn (UKB) sowie des Neurologischen Rehabilitationszentrums Godeshöhe. Auf einer gerade veröffentlichten Liste aller Experten weltweit, die sich nicht nur klinisch, sondern auch wissenschaftlich mit der Diagnostik von Harninkontinenz beschäftigen, gehört sie als einzige Universitätsprofessorin zu den drei dort genannten Deutschen.

„Voraussetzung ist, dass die Betroffenen mit einer Fachärztin oder einem Facharzt offen über die sie belastenden Symptome sprechen“, betont Professorin Dominique Könsgen-Mustea, Leiterin der Sektion Urogynäkologie. Denn auch wenn die Muskulatur des Beckenbodens und die Elastizität des Bindegewebes im Laufe des Lebens nachlassen: „Ein unabwendbares und still hinzunehmendes Schicksal sind Funktionsstörungen des Beckenbodens keineswegs.“

Beim nächsten Patientenkolloquium des UKB am Donnerstag, 18. November, das von 18 bis 20 Uhr voraussichtlich als Hybridveranstaltung (im Hörsaal des Biomedizinischen Zentrums sowie über das Konferenzportal Zoom) stattfinden wird, geht es um Diagnostik und Behandlung urogynäkologischer Funktionsstörungen und Erkrankungen. Dabei stellen der Klinikdirektor und die beiden Professorinnen sowohl konservative (siehe unten) als auch chirurgische Therapieverfahren vor.

Frauen ab 50 gehören zur größten Gruppe der Patientinnen mit Funktionsstörungen und Erkrankungen des Beckenbodens

„Es gibt bei Inkontinenz- und Senkungsbeschwerden nicht eine Behandlung für alle“, erklärt Mustea. „Wir haben es dabei vielmehr mit sehr komplexen und spezialisierten Fachgebiet zu tun, das eine differenzierte Diagnostik sowie interdisziplinäre und individualisierte Therapiekonzepte erfordert.“ Die Ursachen können neurologisch, urologisch oder gynäkologisch sein. Damit gehen in vielen Fällen, aber nicht zwingend, Inkontinenz oder auch Entleerungsstörungen einher. Frauen ab 50 gehören zur größten Gruppe der Patientinnen mit Funktionsstörungen und Erkrankungen des Beckenbodens. Mit zunehmendem Alter steigt die Inzidenz. „Junge Frauen haben unter Umständen nach Geburten oder durch eine angeborene Bindegewebsschwäche ähnliche Probleme“, so Mustea. Weitere Ursachen können Hormonmangel sowie die Bestrahlung oder Chemotherapie bei Brust-, Eierstock- oder Gebärmutterhalskrebs sein. In einer Studie untersucht Kirschner-Hermanns zudem die Auswirkungen neurologischer Erkrankungen wie Multipler Sklerose und Parkinson auf die Kontinenz. „In Fokus stehen die morphologischen Veränderungen an der Blase“, ergänzt sie.

Patienten und Patientinnen mit Beckenbodenbeschwerden eine Anlaufstelle zu bieten, hat sich das Interdisziplinäre Bonner Kontinenz- und Beckenbodenzentrum zum Ziel gesetzt, das von Experten aus der Urologie, Gynäkologie und Chirurgie gemeinsam getragen wird. Oftmals gehen Funktionsstörungen und Erkrankungen des weiblichen Beckenbodens mit Beschwerden oder Schmerzen einher, die sowohl urologische, gynäkologische oder koloproktologische (Erkrankungen des Dick- und Enddarmes sowie des Beckenbodens betreffend) Ursachen haben können, neurologische oder auch psychische. Zum Team des Zentrums gehören auch speziell ausgebildete Urotherapeuten und Physiotherapeuten. Angegliedert ist außerdem das Neurologische Rehabilitationszentrum „Godeshöhe“.

   Die Experten   beim Patientenkolloquium Urogynäkologie (von links): Professor Alexander Mustea, Professorin Ruth Kirschner-Hermanns und Professorin Dominique Könsgen-Mustea.

Die Experten beim Patientenkolloquium Urogynäkologie (von links): Professor Alexander Mustea, Professorin Ruth Kirschner-Hermanns und Professorin Dominique Könsgen-Mustea.

Foto: Rolf Müller

Ein chirurgischer Eingriff ist aber nicht zwingend und auch nicht immer möglich

Auch wenn es vielen Menschen schwer fällt, über intime Details zu sprechen, so ist dies doch für die Anamnese, der eine umfassende körperliche Untersuchung mit präziser Bildgebung folgt, von essenzieller Bedeutung und die Angst vor einer umgehend folgenden Operation in aller Regel unbegründet: „Der erste Schritt wird eine konservative Therapie sein“, sagt Kirschner-Hermanns. „Wenn diese nach drei bis sechs Monaten keinen nennenswerten Erfolg zeigt, ist ein chirurgischer Eingriff die wirksamere Methode. Aber auch das wird nicht einfach aber den Kopf der Patientin hinweg beschlossen. Manche Frauen entscheiden sich vielleicht, es noch einmal mit einer weiteren nicht operativen Methode zu versuchen.“ Andere hingegen sind erleichtert, wenn sie (endlich) operiert werden – zum Beispiel, wenn ein hebendes Band unter die Harnröhre gelegt oder beim Prolaps (Vorfall) der Gebärmutter in einer Hyster-
ektomie deren Körper entfernt, der Hals jedoch erhalten und ein stützendes Netz eingezogen wird.

In Studien wird auch der Einfluss der Therapie auf die Lebensqualität untersucht

„Wir operieren minimal-invasiv, defektorientiert und stets an die individuelle Symptomatik angepasst, um die Beckenbodenintegrität zu erhalten“, beschreibt Könsgen-Mustea das chirurgische Vorgehen. „Dabei bietet vor allem der vaginale Zugang mehrere Vorteile wie eine kurze Narkose, geringe Schmerzen und schnelle Regeneration.“ Doch nicht jede Frau mit Funktionsstörungen des Beckenbodens muss und auch nicht jede kann operiert werden. „Die chirurgischen Methoden, ob abdominal oder vaginal, sind abhängig von der individuellen Krankheitsgeschichte und der Anatomie der Patientin“, sagt Kösngen-Mustea. Um möglichst nervenschonend operieren zu können, ist präzise Bildgebung unerlässlich. Urogynäkologische Eingriffe werden laporoskopisch oder auch roboterassistiert vorgenommen.

Um den Erfolg messen und optimieren zu können, wird diese Arbeit wissenschaftlich begleitet. 90 Prozent der Patienten sind nach Angaben den Experten in solche Studien eingebunden, die unter anderen den Einfluss der Therapie auf ihre Lebensqualität dokumentieren.

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