Weniger Hektik und Stress Wie Achtsamkeit mehr Ruhe in den Alltag bringt

Berlin/Gießen · Raus aus dem Autopilot-Modus: Sich im Alltag weniger gestresst fühlen, das kann mit Achtsamkeit gelingen. Was Sie über den sanften Weg zu weniger Hektik wissen müssen.

Achtsamkeit lässt sich mit kleinen Übungen einfach in den Alltag einbauen. Das hilft, Stress besser zu bewältigen.

Foto: Christin Klose/dpa-tmn

Sie möchten einen sanften Weg finden, um Stress und Hektik hinter sich zu lassen? Sie möchten wieder häufiger das Gefühl haben, wirklich im Moment präsent zu sein?

Achtsamkeit lässt sich ganz einfach in den Alltag einbauen. Schon kleine Übungen haben große Wirkung. Lesen Sie hier, wie das gelingt.

Was versteht man unter Achtsamkeit?

Forschende aus den USA haben herausgefunden, dass viele Menschen gar nicht genau wissen, worum es bei Achtsamkeit geht.

Demnach gehen Menschen, die Achtsamkeit vermeintlich praktizieren, häufig davon aus, dass es sich um einen Zustand handelt, in dem man alles, was passiert und was man fühlt, möglichst akzeptiert.

Das greift aber zu kurz.

Eine einheitliche Definition für Achtsamkeit gibt es nicht. Sie steckt in vielen Konzepten der traditionellen Heilkunde und ist Element verschiedenster Meditations- und Körperpraktiken.

Die meisten Definitionen von Achtsamkeit gehen auf das Verständnis zurück, dass der Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn geprägt hat. Er gilt als Vater der Achtsamkeitspraxis in den westlichen Kulturen.

Ulrich Ott forscht am Bender Institute of Neuroimaging an der Justus-Liebig-Universität Gießen zu Meditation. Er übersetzt Kabat-Zinns Definition folgendermaßen ins Deutsche:

„Die Bewusstheit, die dadurch entsteht, dass die Aufmerksamkeit absichtsvoll, im gegenwärtigen Moment und nicht wertend auf die sich von Moment zu Moment entfaltende Erfahrung gerichtet wird.“

Achtsamkeitstrainer Mathias Gugel beschreibt es so:

„Achtsamkeit ist eine Haltung, mit der man den gegenwärtigen Moment mit allen Erfahrungen - auch den unangenehmen - unvoreingenommen wahrnehmen und annehmen kann.“

Der Nutzen: Eine achtsame Haltung weitet den Blick für neue Möglichkeiten, um bewusste Entscheidungen zu treffen und flexiblere Verhaltensweisen zu entwickeln.

Vor allem drei Aspekte sind laut Ott wichtig:

  • sich auf die Gegenwart fokussieren
  • absichtsvoll sein
  • nicht werten

Wo liegen die Ursprünge von Achtsamkeit?

Das Konzept geht ursprünglich auf die buddhistische Philosophie zurück. Es wird in der buddhistischen Tradition zum Erlangen unbedingten Wohlbefindens praktiziert.

Darauf aufbauend entwickelte Jon Kabat-Zinn in den 1970er-Jahren am Center for Mindfulness der University of Massachusetts Medical School das achtwöchige Gruppen-Trainingsprogramm „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ - eine Form der westlichen, säkularen Meditation.

In heutigen Programmen zum Verringern von Stress werden die Achtsamkeitsübungen meist vermittelt, ohne näher auf die zugrunde liegende buddhistische Philosophie einzugehen.

Was kann Achtsamkeit bewirken?

Der MBSR-MBCT Verband, ein Zusammenschluss von Achtsamkeitslehrenden, beschreibt Achtsamkeit als einen Weg, den Geist und das Bewusstsein zu schulen.

Das heißt: Wer achtsam ist, übt sich darin aufmerksam mit seinen Gedanken, Gefühlen und seinem Körper umzugehen.

Damit können Sie ein tiefes Verständnis von sich selbst und Ihrem Umgang mit der Welt entwickeln - und den Alltag mit seinen Herausforderungen besser bewältigen. In einer reizüberfluteten Welt finden Sie wieder zu sich selbst.

Das Problem: Viele Menschen funktionieren wie im Autopilot-Modus. Sie sind mit ihren Gedanken entweder in der Zukunft oder in der Vergangenheit. Durch Meditationsübungen können sie lernen, im Moment zu sein, automatisierte Handlungsmuster zu erkennen - und diese letztlich zu durchbrechen.

Untersuchungen zeigen, dass sich etwa mit der Meditationspraxis der Achtsamkeit eine Reihe stressbedingter, aber auch anderer Erkrankungen begegnen lässt. Zudem lassen sich damit das Wohlbefinden und die Lebensqualität erhöhen.

Mit dem richtigen Training lassen sich die Herausforderungen des Alltags besser bewältigen.

Foto: Jens Schierenbeck/dpa-tmn

Zu den Wirkungen von Achtsamkeitspraxis gibt es sehr viele Studien und Metaanalysen, ebenso zu den Wirkungen auf die Hirnaktivität und -struktur, so Diplom-Psychologe Ott.

In Metaanalysen konnte zum Beispiel belegt werden, dass Achtsamkeits-Meditationsprogramme positive Effekte haben auf:

  • Angstzustände
  • Depressionen
  • Schmerzen
  • Stress
  • die auf die psychische Gesundheit bezogene Lebensqualität

Wie lerne ich am besten Achtsamkeit?

Eine achtsame Haltung kommt nicht von selbst, sondern will trainiert werden. Mathias Gugel zufolge gibt es hier zwei Wege:

  • Sie machen Achtsamkeitsübungen wie Atem- oder Gehmeditation.
  • Sie bauen achtsame Momente unkompliziert in den Alltag ein, sodass diese zur Gewohnheit werden.

Ulrich Ott zufolge kann ein Kurs ein guter Einstieg sein. Es gibt aber auch viele Bücher und Audio-Anleitungen im Internet.

Was ist MBSR und wie geht das?

Das wohl bekannteste Achtsamkeitstraining nennt sich Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR).

MBSR ist ein Gruppenprogramm mit Sitzmeditationen, Konzentrations- und Bewegungsübungen - eben jenes Programm das Jon Kabat-Zinn in den 1970ern entwickelt hat. Der Erfolg gilt als gut erforscht.

Es gibt zahlreiche Anbieter für Trainings. Laut MBSR-Verband verbindet das Programm meditative Übungen in Ruhe und Bewegung mit Ansätzen aus der modernen Psychologie und Stressforschung.

Die Gruppe mit etwa 8 bis 15 Teilnehmenden kommt während des Programms einmal in der Woche für eine rund zweieinhalbstündige Sitzung zusammen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer lernen verschiedene Übungen und Praktiken, um Achtsamkeit zu entwickeln.

Dazu gehören zum Beispiel:

Stessbewältigung durch Sitzmeditationen, Konzentrations- und Bewegungsübungen.

Foto: Christin Klose/dpa-tmn
  • Sitzmeditationen zur Schulung von Atem- und Körperempfinden
  • Bodyscans, eine Übung, bei der Aufmerksamkeit systematisch durch den ganzen Körper geführt wird
  • achtsame Bewegungs- und Dehnübungen
  • Gehmeditationen

Ziel ist es, die Konzentration im gegenwärtigen Moment zu halten oder dorthin zurückzuführen.

Achtsamkeit und MBSR sind nicht einfach mit Meditation gleichzusetzen. Meditation sei ein Oberbegriff für eine Reihe von Methoden, sagt Ulricht Ott. Achtsamkeit ist dagegen eine Haltung. Es gebe verschiedene Meditationen zum Kultivieren von Achtsamkeit.

Wie finde ich einen guten Kurs?

Krankenkassen haben oft Suchportale für hochwertige Kurse und übernehmen meist einen Teil der Kosten, wie Ott erklärt.

Der Berufsverband der Achtsamkeitslehrenden bietet auf seiner Webseite ebenfalls eine Kurssuche an.

Der Verband weist darauf hin, dass Krankenkassen MBSR-Kurse nur dann bezuschussen, wenn die Kursleitung eine zertifizierte Ausbildung als MBSR-Lehrer oder -Lehrerin nachweisen kann und einen dem Präventionsgesetz entsprechenden Grundberuf hat.

Dazu gehören etwa Ärztinnen und Psychologen, Pädagoginnen und Sozialpädagogen sowie Sozialwissenschaftler oder Gesundheitswissenschaftlerinnen.

Wie geht Achtsamkeit im Alltag?

In einem Achtsamkeitstraining lernen Sie nicht nur Meditationspraktiken. Sie bekommen auch vermittelt, wie ein achtsamer Alltag aussehen kann. Dazu eignen sich zum Beispiel alltägliche Dinge wie Zähneputzen, Essen oder der Abwasch.

Achtsamkeitstrainer Mathias Gugel erklärt es am Beispiel des Duschens. Das kann eine gute Übung zur Achtsamkeit sein.

„Anstatt im Kopf schon den ganzen Tag zu planen, geht es darum, das warme Wasser auf der Haut zu spüren, den Duft des Shampoos zu riechen und den ganzen Körper beim Abtrocknen wahrzunehmen“, sagt Gugel. „So wird Duschen zur sinnlichen Erfahrung und damit nebenbei zur wohltuenden Achtsamkeitsübung.“

Dass die Aufmerksamkeit dabei immer wieder in Erinnerungen oder Pläne abschweift, sei ganz natürlich. Kein Grund, sich selbst zu bewerten!

Duschen wird zu einem sinnlichen Erlebnis, wenn wir uns darauf konzentrieren, warmes Wasser zu spüren und Seife und Shampoo zu riechen.

Foto: Christin Klose/dpa-tmn

„Sobald Sie das gedankliche Abdriften bemerken, ist es ein Moment der Achtsamkeit“, sagt Gungel. Dann geht es darum, die Aufmerksamkeit „freundlich und gezielt“ zu der sinnlichen Erfahrung zurückzubringen. „So können Sie Achtsamkeit trainieren wie einen Muskel.“

Kann Achtsamkeit auch schaden?

Achtsamkeit im Alltag ist Ulrich Ott zufolge relativ unproblematisch.

Insbesondere bei Menschen mit Traumata oder anderen psychischen Vorbelastungen kann Meditation, wie sie im Rahmen von Achtsamkeit ausgeübt wird, unter Umständen auch belastende Wirkungen haben. Etwa dann, wenn durch die intensive Selbstkonfrontation längst vergessene Wunden wieder aufgedeckt werden.

Daneben kann es sein, dass manche Achtsamkeitsangebote falsche Vorstellungen wecken. „Achtsamkeit ist eine Haltung, die keine Versprechungen macht“, sagt Ulrich Ott.

„Wenn jemand verspricht, dass man durch die Praxis von Achtsamkeit bewusster und selbstbestimmter leben kann, halte ich das nicht für übertrieben.“ Allerdings sei Achtsamkeit kein Allheilmittel für alle Arten von Problemen und alle Menschen.

„Achtsamkeit zu praktizieren ist nicht immer nur angenehm, sondern kann auch recht schmerzhaft sein, wenn man mit seinen Schattenseiten konfrontiert wird“, sagt der Meditationsforscher.

Krankenkassen weisen außerdem darauf hin, dass ein MBSR-Training keine Therapie ersetzt, wie sie etwa bei psychischen Belastungen oder Erkrankungen nötig sein kann.

Welche Achtsamkeitsübungen eignen sich für den Alltag?

Achtsamkeitspraxis ist: die Natur bewusst spüren.

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  • Morgenübung im Bett: Sammeln Sie sich morgens im Bett, indem Sie sich räkeln und strecken oder dreimal tief durchatmen.
  • Gehen Sie mit den Kindern nach draußen: Spüren Sie Steine, Blumen oder Regen. Lauschen Sie dem, was in der Natur zu hören ist.
  • Nutzen Sie Ihren Körper als Anker: Duschen Sie bewusst, ohne bereits den Tag vorauszuplanen.
  • Nutzen Sie Ihren Atem als Anker: Nehmen Sie ein paar tiefe Atemzüge, bevor Sie den Computer hochfahren.
  • Nutzen Sie Wartesituationen als Übung zum Sammeln: Wenn zum Beispiel Ihr Kind beim Anziehen trödelt oder Sie in einer langen Schlange im Supermarkt stehen, sammeln Sie sich innerlich, um im Moment zu sein.
  • Nutzen Sie den Weg zur Arbeit zum Sammeln: Fragen Sie sich: Wie genau fühlt sich das Laufen an? Was begegnet mir Schönes auf dem Weg?
  • Essenszeiten mit der Familie: Nutzen Sie die gemeinsamen Mahlzeiten mit der Familie und essen Sie mit allen Sinnen und ohne Medien.
  • Reflektieren Sie vor dem Einschlafen: Was war heute schön? Wofür bin ich dankbar?

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(dpa)