Lagebericht aus Bad Neuenahr-Ahrweiler Beginn der Großbaustelle am Hang erzeugt Kopfschütteln

Bad Neuenahr · Der seit Jahren geplante Straßenausbau der oberen Unterstraße in Bad Neuenahr beginnt ausgerechnet jetzt. So, als hätte es nie eine Katastrophe und Komplettzerstörung 300 Meter rechts und links von der Ahr gegeben.

 Eine am Hang gelegene Mauer muss neu gestützt werden, dazu braucht es Spezialgerät.

Eine am Hang gelegene Mauer muss neu gestützt werden, dazu braucht es Spezialgerät.

Foto: Victor Francke

Der Kampfmittelräumdienst rückt in der Bad Neuenahrer Unterstraße an. Rein vorsorglich natürlich, damit nicht eine versehentlich irgendwann übersehene Zwei-Zentner-Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg bei Baggerarbeiten im Kurviertel in die Luft fliegt. Schließlich will die Stadt ja den Ausbau der oberen – von der Flutwelle weitgehend verschont gebliebenen – Unterstraße in Angriff nehmen. Wie bitte? Ja, der seit Jahren geplante Straßenausbau beginnt. So, als hätte es nie eine Katastrophe und Komplettzerstörung 300 Meter rechts und links von der Ahr gegeben.

Eine am Hang gelegene Stützmauer muss neu gestützt werden, mit Spezialgerät und Spezialisten, Pfähle müssen in den Boden getrieben werden, damit danach Kanal, Abwasser, Gas und was sonst noch an Leitungen ins Erdreich passt, installiert werden können. Der Kampfmittelräumdienst machte erst einmal Sondierungsbohrungen. Es folgen der Bau von neuem Bürgersteig und neuer Asphaltdecke mit entsprechendem Unterbau. Keiner kann sagen, die Kreisstadt halte sich nicht an ihre Versprechen oder an die mit Baufirmen geschlossenen Verträge. Schließlich haben die Anlieger bereits vor Monaten ihre Vo­rauszahlungen, allesamt im fünfstelligen Bereich, geleistet.

Dass diese die Welt nicht mehr verstehen, versteht sich von selbst. Seit mehr als vier Wochen sind sie und weite Teile der Stadt ohne Strom und ohne Trinkwasser. Bagger, Lastwagen, Traktoren, Raupen, Radlader drängen und zwängen sich seit der Flutkatastrophe durch das Viertel, erst recht durch die obere Unterstraße, die schnurstracks in den Bereich führt, in dem Schutt, Trümmer, abgesoffene Autos und Sperrmüllberge abgeholt werden müssen. Verbunden ist all das mit einer Staub- und Dreckbelastung, der vermutlich selbst ein Bergmann im Ruhrgebiet vor 100 Jahren nicht ausgesetzt war. Vom Lärm ganz zu schweigen. Pützchens Markt dürfte eine Oase der Ruhe sein im Vergleich zu den Dezibelzahlen, die man im Kurviertel messen kann. Da passt die neue Mammutbaustelle mitsamt ihrer Straßensperrung jetzt nach Meinung der dortigen Bewohner besonders gut ins Bild.

Besonders stößt auf, dass nun deshalb auch ein privat organisierter Versorgungsstand geschlossen werden muss. Zwischen 200 und 300 warme Mahlzeiten werden dort täglich ausgegeben – dank der Lieferungen von Unternehmern von Nah und Fern. Auch der Garagen-Mini-Handwerkermarkt, an dem Schaufeln, Eimer, Ohrstöpsel, Besen, Aufnehmer, Gummistiefel, ja selbst Handwerkerkleidung nebst Sicherheitsschuhen abgeholt werden können, macht notgedrungen das Tor zu. Das gilt auch für die danebenliegende Kleiderkammer und den Kuchen- und Getränkestand: Am Wochenende beginnen so die „Betriebsferien“ in der gerade erst an den Start gegangenen „Einkaufsmeile“.

„Endlich hat er sich mal gemeldet“, sagt ein Nachbar, „der Landrat hat ein Lebenszeichen von sich gegeben“, fügt er süffisant hinzu. Das ist ein Thema im Viertel. Schließlich hatte sich Amtsträger Jürgen Pföhler mit einer Stellungnahme an die Öffentlichkeit gewandt (der GA berichtete). Einen Tag später hat er sich nun krankgemeldet und wird vom Kreisbeigeordneten Horst Gies (CDU) vertreten.

Wie im Viertel auch diskutiert wird, was man im General-Anzeiger lesen konnte: Die Fraktionen im Kreistag zeigten (vorerst) keine Bestrebungen, das Kreisoberhaupt einem Abwahl- oder Amtsenthebungsverfahren zu auszusetzen, weil man die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsergebnisse abzuwarten gedenke. Allerdings räumten die Grünen Zweifel ein, ob dieser Konsens auch im Kreisverband der Partei durchsetzbar sei. Er war es nicht. Die Grünen wollen nun einen Antrag im Kreistag stellen, mit dem Jürgen Pföhler zur Amtsniederlegung gezwungen wird. Die SPD versucht es auf die milde Tour: Sie appelliert an den Landrat, von sich aus die Konsequenzen zu ziehen.

Der Autor: Victor Francke war bis Ende vergangenen Jahres Redakteur in der Ahr-Redaktion des General-Anzeigers. Er wohnt seit einigen Jahren an der Unterstraße in Bad Neuenahr.

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