Freiwillige Helfer im Flutgebiet an der Ahr „Ohne die Freiwilligen wüsste ich nicht, wie wir das schaffen sollten“

Ahrweiler · Auch eine Woche nach der Unwetterkatastrophe ist die Not der Menschen in Ahrweiler groß. Hilfe kommt von Freiwilligen, die mit Shuttlebussen ins Krisengebiet gefahren werden und dort privat mit anpacken. Unser Reporter ist mitgefahren.

 Unzählige Menschen sind nach Ahrweiler gereist, um zu helfen - so auch Gi­sa, Ka­ren, Mi­chel­le, Ryan, Lau­ra und Isa­bel­la (v.l.).

Unzählige Menschen sind nach Ahrweiler gereist, um zu helfen - so auch Gi­sa, Ka­ren, Mi­chel­le, Ryan, Lau­ra und Isa­bel­la (v.l.).

Foto: Nils Rüdel

Die Ansage lässt alle Gespräche in dem schwarzen VW-Bus sofort verstummen. „Ich hoffe, dass ihr psychisch stabil seid“, ruft die Fahrerin durch ihre Maske nach hinten. „Sprecht die Menschen nicht an, aber wenn sie reden möchten, hört ihnen zu“. Und: „Geht nicht ungefragt in leerstehende Häuser“. Die Frauen und Männer auf Beifahrersitz und Rückbänken blicken betreten, während sich das Auto langsam seinem Ziel nähert: dem Katas­trophengebiet im Kreis Ahrweiler. Vorbei an Schuttbergen, Staus und Spezialfahrzeugen von Bundeswehr, THW, Rotem Kreuz und Polizei. „Um 16.30 Uhr holen wir euch an dieser Stelle wieder ab“, sagt die Fahrerin, als die Passagiere, bewaffnet mit Eimern, Gummistiefeln und Schaufeln, im stark beschädigten Weindorf Walporzheim aussteigen.

Die Menschen in dem Bus kannten sich zumeist vorher nicht. Genauso wenig wie Hunderte andere, die sich an diesem sonnigen Mittwochmorgen auf einer Wiese in Grafschaft eingefunden haben. Sie bringen Gummihosen mit und Besen, Gartenschläuche, Kärcher oder Campingkocher. Alles, was hilft. Man duzt sich. Es sind private Helfer, die mit anpacken wollen, wenigstens einen kleinen Teil der Verwüstungen beseitigen möchten, die der Starkregen und die Flutwelle vor knapp einer Woche in der ganzen Gegend angerichtet haben. Mehr als 120 Menschen sind dort gestorben, noch immer werden Leute vermisst. Tausende Häuser sind unbewohnbar geworden. Der Wiederaufbau wird noch Jahre dauern.

„Die Menschen brauchen jetzt sofort Hilfe“, sagt Marc Ulrich . Der 42-jährige Marketing-Unternehmer aus Bad-Neuenahr-Ahrweiler hat den kostenlosen Dienst Helfer-Shuttle gegründet. Jeden Morgen ab 7 Uhr schicken er und seine Mitstreiter im Innovationspark Rheinland Kleinbusse, Linienbusse und Reisebusse los, die die Freiwilligen in die schwer erreichbaren Orte bringen. Ob Ahrweiler, Dernau oder Rech – für die meisten ist es zweitrangig, wo sie hingefahren werden, denn Arbeit gibt es überall. „Die Anwohner im Ahrtal sind sehr froh über die Helfer“, sagt Ulrich.

Die Freiwilligen – darauf weisen schon die Nummernschilder der zahllosen geparkten Autos auf der Wiese hin – kommen teils von weit her: Böblingen ist dabei, Ludwigshafen, Harz, Düsseldorf, Siegen, Köln oder Bonn. Sogar ein Diplomatenkennzeichen. Die Autos gehören Menschen wie dem 58-Jährigen Marco aus Mönchengladbach, der als Kind „so viel Schönes“ an der Ahr erlebt hat und jetzt „etwas zurückgeben“ will. Menschen wie Elisabeth, 30 Jahre alt, Ärztin aus Koblenz. Sie sei schockiert gewesen von den Bildern, sagt sie im Bus nach Walporzheim. „Es ist vollkommen surreal“. Sie nahm Urlaub und ist nun schon zum zweiten Mal dabei.

Oder Cris, Karikaturist aus Meckenheim. „Ich fand keine Ruhe, so lange ich nicht helfen konnte“, sagt der 47-Jährige. Man würde sich selbst doch auch eine ähnliche Hilfe wünschen. Und Maike, 21, aus Wachtberg, erzählt: „Da, wo wir bis vor Kurzem noch gefeiert haben, ist jetzt Chaos“. Wenn andere in Not seien, „muss man doch etwas tun.“ Maike hat auch ihren Vater Manfred und ihre Freunde Lilly und Noah mitgebracht. Auch Sanitäter oder Soldaten sind unter den Fahrern und Helfern. Sie sagen, sie würden aus bürokratischen Gründen nicht eingesetzt und müssten dann eben privat mit anpacken.

Wenn die Leute in den Bussen ihre Eindrücke aus dem Katastrophengebiet schildern, fällt immer wieder dieser Satz: „Es ist wie im Krieg“. Und tatsächlich sieht Bad Neuenahr-Ahrweiler an diesem Morgen, sechs Tage nach der Flutwelle, wie ein Kriegsgebiet aus.

Behutsam steuert der Fahrer den weißen Reisebus des Helfer-Shuttles durch die verwüstete Sebastianstraße. Vorbei an Menschen mit schlammiger Kleidung, offenen Häusern, Müllhaufen, gestrandeten Autos und Pfützen am Straßenrand. Der Verkehr ist chaotisch, Privatautos teilen sich den wenigen Raum mit Rettungswagen, einem Panzerfahrzeug, Mannschaftswagen der Polizei und Fußgängern.

Der Asphalt ist erdig und staubig, die Sicht ist schlecht. Ampeln sind außer Betrieb oder weggespült. Am Himmel kreisen Hubschrauber. Die Autowaschanlage, vor der der Fahrer schließlich seinen Bus anhält und die Türen öffnet, wirkt in diesem Szenario wie ein geschmackloser Scherz.

Vom Bus aus macht sich ein Trupp aus fünf Frauen und einem Mann auf den Weg. Isabella, 32, aus Oberhausen hat Laura, 23, aus Duisburg sowie die 53-jährige Karen aus Bottrop und ihre Tochter Michelle, 32, bereits bei Einsätzen aus den vergangenen Tagen kennengelernt. Dabei sind auch Gisa, 43, aus Essen, und Ryan, 27, Soldat aus der Region. Sie haben ein Ziel: Eine Familie in der Telegrafenstraße in Ahrweiler. Die Bewohner und Isabella hatten zuvor über Facebook Kontakt.

 Ryan holt mit Ei­mern al­les aus dem Kel­ler.

Ryan holt mit Ei­mern al­les aus dem Kel­ler.

Foto: Nils Rüdel

Die Telegrafenstraße ist rund einen Kilometer vom Halt des Busses entfernt. Doch der Helfertrupp kommt nicht weit. Nach ein paar Hundert Metern ruft ein Mann aus einem zerstörten Laden, der mal ein Gardinengeschäft war: „Könnt ihr helfen?“. Die Frauen und der Soldat zögern nicht, legen ihre Rucksäcke ab und gehen an die Arbeit.

Niemand weiß, was sich alles in der Schlammschicht verbirgt

Der Gardinenladen ist völlig zerstört. Vor dem Haus ist ein angeschwemmtes Auto auf einem Steinsockel zum Stehen gekommen. Das Erdgeschoss ist bereits leer, der Teppich schlammgetränkt. Es riecht nach modriger Erde und Öl. Niemand weiß, was sich alles in der Schlammschicht verbirgt.

Der Keller muss noch geräumt werden. Mit Eimern und Schubkarren transportieren die Helfer jetzt alles heraus, was noch drin ist: Ordner, Gardinen, Stangen – alles verschlammt und nur noch ein Fall für die sich immer höher türmende Müllhade vor dem Haus. Traurige Zeugnisse einer langen Geschichte des Geschäftes, das es seit 1963 gibt. Oder gab.

Martina Groß, Inhaberin des Ladens in zweiter Generation, ist schon seit Tagen an der Arbeit. „Wir müssen alles rausholen, nichts ist mehr intakt“, sagt die 54-Jährige. Den Freiwilligen ist sie „unendlich dankbar“. Denn auf offizielle Hilfe warte sie schon lange. „Ohne die Freiwilligen wüsste ich nicht, wie wir das schaffen sollten.“ Den ganzen Tag führen Rettungsdienste an ihrem Geschäft vorbei, doch niemand steige aus, sagt Groß. Sie wird zornig, wenn sie über „die Bürokratie“ spricht – und ist zugleich sehr herzlich zu den Helfern.

 La­den­in­ha­be­rin Mar­ti­na Groß freut sich über die Hil­fe.

La­den­in­ha­be­rin Mar­ti­na Groß freut sich über die Hil­fe.

Foto: Nils Rüdel

Als Isabelle, Gisa, Michelle, Laura, Karen und Ryan dann nach gut einer Stunde das Gröbste aus dem Keller heraus geholt haben, machen sie sich zum Abmarsch bereit. Martina Groß hat noch Unterstützung von drei Freundinnen und weiteren Freiwilligen. Der Trupp muss noch weiter: zur Telegrafenstraße.

„Die Hilfsbereitschaft ist der helle Wahnsinn“, sagt Shuttle-Organisator Marc Ulrich, zurück am Verteiler-Parkplatz in Grafschaft. Auch am frühen Nachmittag noch warten dort Menschen auf einen Bustransfer ins Katastrophengebiet. Seit dem Start am Wochenende wachse die Zahl der Freiwilligen täglich, sagt Ulrich. Bis zu 800 Helfer, schätzt er, werden es wohl allein an diesem Mittwoch werden. Dies erfordere auch immer mehr Busse und Fahrer, die Ulrich über sein Netzwerk organisiert hat. Der Mann mit Brille und Dreitagebart ist fröhlich, trotz seiner 22-Stunden-Tagen, wie er sagt. Inzwischen hat er noch mehr Mitstreiter, ein Freund betreut unter anderem seine Facebook-Seite, wegen der vielen Anfragen.

Ulrich räumt ein, dass der Einsatz privater Helfer auch ein zweischneidiges Schwert sein kann. Schließlich baten vielerorts Anwohner in den betroffenen Orten darum, dass Helfer fernbleiben mögen. Zuletzt schrieb das auch die zuständige Polizei Koblenz im Internet. Allerdings, so der ortskundige Shuttle-Organisator, gehe es dabei vor allem um die Sorge vor verstopften Straßen. „Und genau deshalb haben wir den Shuttle-Dienst ins Leben gerufen, weil dieser gezielt Helfer bringen kann.“

Ob er die stark steigende Nachfrage noch lange bedienen kann, kann der 42-Jährige noch nicht genau abschätzen. „Wir schauen uns das erstmal bis Sonntag an“, sagt Ulrich, „und dann entscheiden wir“.

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