Therapeut schreibt Buch über Fluthelfer „Wenn Unglücke das Gute im Menschen hervorbringen“

Ahrtal · Knapp drei Jahre nach der Ahrtal-Flut beschäftigt sich das Buch des Psychotherapeuten Sina Haghiri mit der unglaublichen Hilfsbereitschaft der freiwilligen Helfer. Viele Reaktionen auf die Katastrophe sieht der Fachmann als bemerkenswertes Beispiel für gelebte Empathie.

 Freiwillige Fluthelfer brachten sich zu Tausenden nach der Flutkatastrophe im Ahrtal ein.

Freiwillige Fluthelfer brachten sich zu Tausenden nach der Flutkatastrophe im Ahrtal ein.

Foto: dpa/Thomas Frey

Als das Ausmaß der Zerstörung nach der Flutkatatsrophe im Ahrtal bekannt wurde, war nicht nur die Anteilnahme riesig, sondern auch die Spendenbereitschaft und die konkrete, praktische Unterstützung. Hilfsorganisationen und Behörden baten bald darum, nicht einfach mit Schaufel und Gummistiefeln in die Region zu kommen, weil die Hilfsbereitschaft kaum noch koordinierbar war. Diese gelebte Empathie sei bemerkenswert gewesen, sagt Sina Haghiri. Der Psychotherapeut hat jetzt ein Buch über Nachsicht und Empathie veröffentlicht, das auch die Katastrophe im Ahrtal betrachtet.

Braucht es also mitunter schreckliche Ereignisse, um das Gute im Menschen hervorzubringen? Nein, sagt Haghiri. Gutes geschehe „die ganze Zeit“ und oft ohne dass es auffalle: „Millionen Menschen können in Großstädten aufeinanderhocken, ohne sich gegenseitig permanent an die Gurgel zu gehen - das drängt sich aber in der Wahrnehmung weniger auf.“ Allerdings zögen Extremsituationen viel Aufmerksamkeit auf sich. Die Hilfe finde viel Beachtung, weil die vorangegangene Katastrophe selbst so viel Aufmerksamkeit gebunden habe, erklärt der Therapeut.

Präzisere Warnsysteme, Hochwasserschutz auch an kleineren Gewässern, Übungen für den Ernstfall: Seit dem folgenschweren Hochwasser, das im Ahrtal vor drei Jahren über 180 Menschen das Leben kostete, hat sich viel getan. Dennoch könne keine Hochtechnologie vollständig vor dem Hereinbrechen von Naturgewalten schützen, ergänzt der Soziologe Marcel Schütz: „Wir können noch so modern und innovativ werden, wir müssen damit leben, dass wir das natürliche System des Wetters nicht beherrschen können.“

Schütz erinnert zudem an den historischen Umgang mit großen Unglücken: „Von alters her wurden Fluten, Beben, Dürren oder Stürme als göttliche Strafe für die Sünden der Welt erfahren.“ Bis heute sprächen viele Menschen von der „Rache der Natur“, davon, dass sie sich „Bahn bricht“ oder etwas „zurückholt“. Geändert habe sich diese Perspektive erst mit dem Erdbeben von Lissabon 1755. Das sei für Philosophen ein Anlass zur Frage gewesen, wie ein gütiger Gott das Übel in der Welt zulassen könne, so Schütz. Auch gab die Katastrophe, die die portugiesische Hauptstadt fast vollständig zerstörte und mehrere zehntausend Todesopfer forderte, einen Anstoß zur Entwicklung der Erdbebenforschung. Man habe damals begonnen, Katastrophen als Ereignis zu begreifen, die „praktischer Bewältigung“ bedurften, erklärt der Professor für Organisation und Management an der Hamburger Northern Business School.

„Katastrophen konzentrieren eine zergliederte Welt auf einen bestimmten Ort, Zeitpunkt und Umstand.“ Früher hätten Literaten und Maler diese Eindrücke festgehalten, heute folgten die Menschen gebannt den Sondersendungen. Diese unheimliche Faszination sei zweischneidig, fügt Schütz hinzu. „Man will eigentlich nicht vom Leid anderer Menschen 'unterhalten' werden. Andererseits wollen wir schon wissen, weshalb und wie spektakuläre Dinge passieren.“ Auch Mitgefühl und das Hineinversetzen in die Betroffenen spielten eine Rolle. „Nicht umsonst sind Katastrophenfilme und TV-Dokus über schwere Unglücke gefragt. Sie thematisieren existenzielle Erfahrungen.“

Studien zeigten indes die Wechselwirkung zwischen dem Wohlergehen von Einzelnen und dem der ganzen Gesellschaft: „Diejenigen, die freundlich zu anderen sind, sind meist auch am freundlichsten zu sich selbst - und wenn Menschen auf sich selbst achten, haben sie auch mehr Kapazitäten, um anderen gegenüber nachsichtig zu sein.“ Wer eine Katastrophe überlebt oder eine schwere Krankheit überstanden hat, berichtet oft von einer Fokussierung auf das Wesentliche. Haghiri rät dazu, dies im Alltag zu üben: „Wenn zum Beispiel der Familienausflug nicht nach Plan läuft, weil die Bahn ausfällt - dann kann man sich den ganzen Tag ärgern. Oder man hält sich vor Augen, dass es doch um die gemeinsame Zeit geht, die man auch anderswo verbringen kann.“ Der Mensch habe ohnehin weniger unter Kontrolle, als man in der heutigen Zeit glaube - insofern sei es nützlich, flexibel zu bleiben.

Sina Haghiri: Mit Nachsicht. Wie Empathie uns selbst und vielleicht sogar die Welt verändern kann, Kösel Verlag, München 2024, 272 Seiten, 20 Euro.

(kna)