Protokoll der Katastrophe Wie ein Anwohner die Flutkatastrophe in Bad Neuenahr erlebte

Bad Neuenahr · GA-Mitarbeiter Victor Francke wohnt an der Bad Neuenahrer Unterstraße. Dort forderte die Flutwelle mehr als ein Dutzend Todesopfer. Knapp vor Franckes Hauseingang machte das Wasser Halt. Die Ereignisse haben sich seitdem überschlagen.

 Aufräumen in Bad Neuenahr: In der Kurstadt ist nichts mehr wie es einmal war. Und keiner weiß, wann wieder Normalität einkehrt.

Aufräumen in Bad Neuenahr: In der Kurstadt ist nichts mehr wie es einmal war. Und keiner weiß, wann wieder Normalität einkehrt.

Foto: Sven Westbrock

Unser Mitarbeiter Victor Francke erlebte die Flutkatastrophe am Mittwoch als Anwohner selbst mit. Er ist immer noch ohne Stromversorgung und das Internet nur über Hotspots verfügbar. Sein Protokoll dokumentiert, wie er die dramatischen Ereignissen seit Mittwochabend erlebte:

Mittwochabend: Sirenenalarm (schätze gegen 23 Uhr). Ich starte eine Rundfahrt zunächst zur Ahrweiler Brücke nahe dem Feuerwehrhaus. Campingwagen werden nahe der Brückenstraße aus der Gefahrenzone gebracht. Die Ahr rast förmlich in ihrem Bett, Treibgut, vor allem dicke Baumstämme, donnern gegen die Brückenpfeiler. Die Straßenbeleuchtung fällt aus, die Stadt liegt zum großen Teil im Dunkeln. Allerdings gibt es in den Häusern zunächst noch Licht. Bachemer Brücke und Kurgartenbrücke: Fluss noch im Bett, Brücken kurz vor Überflutung, erste Autoteile in den Fluten. Langsam aber sicher wird klar, was an der oberen Ahr passiert sein muss. Die Überquerung der Brücken ist kaum mehr möglich, erkennbar hohes Risiko, erstes Wasser im Kurgarten. Bei der Casinobrücke unmittelbar an Spielcasino und Kurhaus handelt es sich um eine Stahlbrücke: Laut schallt der Lärm der gegen die Brücke schlagenden Baumstämme und Autoteile zurück. Alleine schon das Rauschen und Schlagen wirkt bedrohlich. Die Ahr rast wie von Turbinen angetrieben in Richtung Rhein. Mehr und mehr tritt Wasser über die Ufer – in hoher Geschwindigkeit. Ich suche das Weite. Kurz nach Mitternacht dehnt sich das Wasser immer weiter aus. Das Licht flackert, dann ist es dunkel. Kompletter Stromausfall in der Stadt.

Die untere Unterstraße füllt sich mehr und mehr mit Wasser, Menschen suchen ihre Tiefgaragen unter den Häusern auf und versuchen ihre Autos zu retten. Vielen wird das zum Verhängnis. In den frühen Morgenstunden erreicht das Wasser die Mittelstraße. Plötzlich schwimmen über diese Straße erste Autos Richtung Osten. Auch auf der Unterstraße schwimmen inzwischen Autos. Unglaublich: Die Mittelstraße liegt etwa 250 Meter von der Ahr entfernt. Immer mehr Fahrzeuge drängen auf die obere Unterstraße, um in Sicherheit gebracht zu werden.

Wasser dringt nun auch in die obere Unterstraße vor. Stopp vor Hausnummer 24, dort läuft nur der Keller voll, alle darunter in Richtung Ahr liegenden Häuser sind massiv betroffen. Anlieger räumen Findlinge an einer fußläufigen Verbindung zwischen Nelkenweg und Unterstraße zur Seite, um eine Fahrverbindung zur oberen Unterstraße zu schaffen, sodass Autos von dort aus das Hochwassergebiet verlassen können. Zu diesem Zeitpunkt gibt es noch Netzverbindungen. Whatsapp-Nachricht von einer Freundin: Die Casinobrücke ist eingestürzt. Nach und nach stürzen in der Kreisstadt so gut wie alle Brücken ein. Die Stadt ist jetzt zweigeteilt in südliches und nördliches Ahrgebiet. Klar ist nach Rückkehr in die Wohnung nun auch, dass es neben der Strom- auch keine Wasserversorgung mehr gibt.

■ Donnerstagmorgen: Das Wasser zieht sich langsam zurück, es hinterlässt eine dicke, nach Benzin und Öl stinkende Schlammschicht. Untere Unterstraße und Mittelstraße stehen noch voll Wasser, mit sinkendem Pegel. In beiden Straßen schwimmen zahllose Autos, die gegen Mauern, andere Autos und Hausfassaden krachen. Von Toten und Verletzten ist die Rede. Inzwischen sind Rettungskräfte eingetroffen. Einziger Verbindungsweg für den südlich der Ahr gelegenen in den nördlichen Stadtteil ist der Weg über die Königsfelder Straße nach Königsfeld, Waldorf, Niederzissen, dort auf die Autobahn wieder zurück nach Bad Neuenahr auf die Umgehungsstraße und später auf die Heerstraße. Heißt: 40 Kilometer Fahrt, um von der Unterstraße auf die andere Ahrseite zu gelangen. Der normale Fußweg beträgt drei Minuten.

Eine Nachbarin erfährt, dass ihr Schwiegervater in Ahrweiler ums Leben gekommen ist. Er wurde mit den Fluten weggerissen. Die Polizei bat um DNA-Material und Beschreibung der Kleider wegen späterer Identifizierung. Mehr und mehr Leichen werden nun gefunden. Allein in der kurzen, vielleicht 200 Meter langen Unterstraße, sollen es 16 sein. Auch im Garten des nahen Seta-Hotels wird eine Leiche gefunden. Später auch in Garagen unter anderem an der Jülichstraße. Anlieger der oberen Unterstraße richten bei „Ferienwohnungen Nehring“ ein Notlazarett ein. Aus dem Keller der Nachbarschaft werden Matratzen und Verbandsmaterial sowie Babynahrung beschafft, da sich unter den Verletzten auch ein Kleinkind befindet.

Erste Gaffer treffen ein. Die Feuerwehr bittet um Rücksicht, da Leichen abtransportiert und zunächst in einer privaten Garage an der oberen Unterstraße zwischengelagert werden. Nach und nach wird das Ausmaß der Katastrophe sichtbar: Massive Schäden am Kurhaus, am Steigenberger Hotel, am Spielcasino, an den Ahrthermen. Ganze Häuserfassaden sind an der Felix-Rütten-Straße sowie der Mittelstraße weggerissen. Bürgersteige wurden weggespült. Es haben sich stattdessen große Krater gebildet. Schaufenster sind geborsten, Campingfahrzeuge, Transporter, Pkw liegen kopfüber oder auf dem Dach in Vorgärten, überall stapeln sich zerstörte Autos, kein Haus ist unversehrt. Die Ahr hat rechts und links jeweils auf einer Breite von mindestens 300 Metern eine Schneise der Verwüstung geschlagen.

■ Freitag/Samstag/Sonntag: Es gibt die Nachricht, dass die Piusbrücke intakt ist und zu Fuß überquert werden kann. Beschwerlicher Weg dorthin, da sich rechts und links Trümmer türmen und die zur Brücke führende Straße von Baggern, Raupen, Traktoren, Bau- und Rettungsfahrzeugen genutzt wird. Ähnlich wie in Unter- und Mittelstraße klafft an der Sebastianstraße ein Katastrophenszenario. Alle Inneneinrichtungen der dortigen Häuser, Geschäfte und Werkstätten sind komplett unbrauchbar.

Aber auf der Sebastianstraße gibt es wenigstens Wasser, wie überhaupt die Versorgungslage im Gebiet nördlich der Ahr besser ist als südlich. Die Stadt ist dort besser zu erreichen, da die Verbindungen nach Meckenheim, Bonn, Wachtberg und die Grafschaft intakt sind. Menschen bekommen Kleidung angeboten und warme Mahlzeiten. Leider vorerst nicht im südlichen Teil. Dort sind zunächst lediglich Was­serstationen aufgebaut. Am Südende der Kurgartenstraße gibt es eine solche „Versorgungsstation“: Säckeweise sind dort Kartoffeln erhältlich. Leider kann sie keiner kochen, da es keinen Strom gibt. Auch kann man sich einen Kasten Wasser mitnehmen. Und Traubenzuckerbonbons.

Lebensmittel bekommt nur derjenige, der sich in sein – sofern vorhanden – Auto setzt und nach Niederzissen fährt, was Ortskunde voraussetzt. Dort befindet sich der nächste Lebensmittelladen: 20 Kilometer entfernt. Am Montag verbessert sich die Versorgung. Ein Freiwilligen-Team aus Neuwied und Koblenz trifft dort mit Suppe, Spaghetti, Kaffee und belegten Brötchen ein und wird von Ortskundigen zu der bis dahin unterversorgten Unterstraße und Mittelstraße gelotst. Wenig später stellt sich dort auch ein Foodtruck aus Königswinter auf und verteilt kostenlos Würste. Über Mund-zu-Mund-Propaganda wird auf die Verpflegungsstation aufmerksam gemacht.

 Mit Suchhunden sind Spezialkräfte am Samstagabend auf Unter- und Mittelstraße unterwegs. Autos werden mit einem „ok“ markiert – als Zeichen, dass sich keine Personen – keine Toten - darin befinden.

Schweres Gerät befreit am Montag Mittel- und Unterstraße von Trümmern. Unzählige freiwillige Helfer sind in der Bad Neuenahrer Innenstadt mit Schaufeln und Besen im Einsatz. Landwirte fahren mit ihren Traktoren Schutt und Sperrmüll ab, Abschleppunternehmen bergen die zerstörten Fahrzeuge. Überall werden Häuser und Wohnungen leergeräumt, rechts und links der Straßen türmen sich riesige Müllberge auf. Wie die Altenahrer Verbandsbürgermeisterin Cornelia Weigand telefonisch mitteilt, dringen unbekannte Menschen dort in Häuser ein, um sich zu bereichern. In Bad Neuenahr bieten Fremde ihre „Hilfe“ an und verschwinden dann mit Diebesgut. Offenkundig kann auch die starke Polizeipräsenz daran nichts ändern.

  Montag: Inzwischen verschlechtern sich die Kommunikationswege, da die Akkus der oft auch als Taschenlampe genutzten Handys vielfach leer sind, zudem die Netzverbindungen kaum mehr funktionieren. Nur wenige wissen, dass das THW eine kleine Ladestation in der Nähe des Krankenhauses aufgebaut hat. Vonnöten sind Lautsprecher-Durchsagen, die zumindest auf Verpflegungsmöglichkeiten aufmerksam machen oder Hinweise auf Wasser- und Stromversorgung geben. Alles lebt hier nur vom Hörensagen. So sperrt die Polizei die komplette Unterstraße und teilt auf Nachfrage mit, dass die Häuser im unteren Bereich angeblich einsturzgefährdet seien, also Häuser, in denen sich just zu diesem Zeitpunkt deren Bewohner befinden, um die Wohnungen leerzuräumen.

In Heimersheim – so berichtet der dort lebende Manfred Rothe – warnten per Megaphon Unbekannte die ohnehin traumatisierte Bevölkerung, „eine weitere Flutwelle sei im Anmarsch“. Rothe: „Die Menschen ließen alles stehen und liegen und suchten die Höhen auf. So stehen dann die Häuser leer und die Täter bedienen sich.“ Diese Masche wird wohl genauso in Dernau, Ahrweiler oder Sinzig angewendet. Viel Konfusion, viel Chaos, wenig Sachinformation. Besser sind diejenigen dran, die noch über ein funktionierendes Smartphone verfügen und so Meldungen der Kreisverwaltung oder der Stadtverwaltung abrufen können. Dazu dürften jedoch immer weniger in der Lage sein.

Die Anlieger organisieren sich jetzt immer besser. Einige können sich Notstromaggregate über private Kontakte beschaffen, die Dichte der Wassertanks mit Trink- oder Brauchwasser nimmt zu. Helfer kommen mit Kaffee und belegten Brötchen. Sieht man von rheinischem Galgenhumor einmal ab, so überwiegt der Pessimismus. Es werde Jahre dauern, bis die Stadt wieder aufgebaut sei, heißt es. Bad Neuenahr wird nie wieder so sein, wie es einmal war. 

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