Kampf gegen die Schlammmassen im Ahrtal „Viele fangen bei null an“

Eine Woche nach der Hochwasserkatastrophe im Ahrtal mit weit mehr als 100 Toten kämpfen die Menschen mit den Schlammmassen. Noch immer werden viele vermisst. Die Zerstörung ist gigantisch. Die Hilfsbereitschaft auch.

 Eine Frau schiebt ihr Fahrrad durch den Schlamm.

Eine Frau schiebt ihr Fahrrad durch den Schlamm.

Foto: dpa/Thomas Frey

Als die Wassermassen in der Nacht den Weinort Dernau an der Ahr erreichen, retten sich Christopher Appel und seine Freundin in die erste Etage ihres Hauses. Aber die Flutwelle macht keinen Halt, dringt auch in dieses Stockwerk ein. Das Paar flüchtet sich mit Hund und Katze weiter nach oben, ins Dachgeschoss. „Das ging gerade gut“, erzählt Appel, Hotelier im gleichnamigen, fast 100 Jahre alten, Familienbetrieb im Nachbarort Rech. Das Extrem-Hochwasser erreicht gegen 1.00 Uhr seinen Höhepunkt - das Dachgeschoss ist noch trocken.

„Wir haben uns die ganze Zeit gefragt, was ist, wenn das Wasser weiter steigt?“, erinnert sich Appel. „Gehen wir aufs Dach, aber wie, oder gehen wir in die Fluten?“

Mit braunem Schlamm überzogene Müllberge aus persönlichen Habseligkeiten, Unrat, Geschirr, Textilien, Möbeln, Heiztanks und Kühlschränken säumen eine Woche nach der Hochwasserkatastrophe in den vielen schwer getroffenen Orten im Ahrtal Plätze, Wege und Straßen. Die Reste vieler, vieler Existenzen. Dazwischen Trümmer, eingestürzte Häuser, kaputte Autos, aufgerissene Straßen, dicke entwurzelte Bäume und zerstörte Weinreben. In einigen Straßen steht der nasse, zähflüssige Schlamm noch immer mehrere Zentimeter hoch.

Überall packen Menschen in Gummistiefeln mit Schaufeln und Schubkarren an, räumen Haus für Haus, Etage für Etage frei. Dazwischen Traktoren, Bagger, Spezialfahrzeuge von Technischem Hilfswerk und Bundeswehr. „Das ganze Tal ist überwältigt von dieser Hilfe“, sagt Appel. Vor allem die zivilen Helfer beeindrucken die Bewohner. „Vielen Dank an alle Helfer. Ihr seid großartig“ ist auf einem Schild zu lesen. Das Deutsche Rote Kreuz kommt mit 50 Kräften aus Bonn in das stark zerstörte Weindorf Rech mit seinen 590 Einwohnern, erwartet worden waren höchstes zehn Helfer. „Und sie wollen wieder kommen“, sagt Appel dankbar.

In der Nähe der Bundeswehr-Kaserne in Grafschaft warten einige Freiwillige mit Schaufeln und Besen auf einen Shuttlebus, der sie zu ihren Einsatzstellen bringt. Sie haben sich über eine Internetseite gemeldet. Eine von ihnen kommt aus Dessau in Sachsen-Anhalt. „Wir hatten zwei Jahrhunderthochwasser an Elbe und Mulde, da sind auch Leute aus ganz anderen Gebieten gekommen und haben geholfen“, sagt die 56 Jahre alte Juristin.

Unternehmensberater Jörg Tschauder aus Köln ist zusammen mit einem Kollegen da: „Wir müssen mal was zurück geben.“ Iris Bergholz ist Lehrerin in Meckenheim bei Bonn. „Ich habe Ferien und mich für alles gemeldet, was man gerade braucht - auch für Kinderbetreuung.“

Oliver Cordes aus Kreuzberg, einem Ortsteil im vom Hochwasser stark getroffenen Altenahr, ist auf dem Weg zu seinem Haus, das evakuiert wurde. Der Astronom von der Uni Bonn ist mit seiner Frau und dem sechs Jahre alten Sohn bei hilfsbereiten Menschen in der Nähe von Bonn untergekommen. „Offizielle Notunterkünfte entstehen ja erst jetzt“, sagt er.

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Sein vorrangiges Ziel sei es zunächst, den Keller und das Erdgeschoss seines Hauses komplett auszuräumen und auszupumpen, deshalb wartet er auf den Shuttlebus. Sein Auto hat er in den Fluten verloren. „Wenn der Schlamm hart wird, ist er wie Beton und kann nur noch weggemeißelt werden.“ Die Straßen müssten auch von dem mit Heizöl und Benzin vermischten Schlamm frei gemacht werden, bevor der für das Wochenende angekündigte Regen komme. Die Müllberge müssten auch weggeräumt werden. „Das fängt an zu riechen.“

Seine Frau und der Sohn hätten in der Katastrophennacht auf dem Balkon auf Rettung gewartet, berichtet Cordes. Der Sechsjährige sei glücklicherweise irgendwann - warm eingepackt - eingeschlafen, seine Frau nach der Schreckensnacht traumatisiert. Er sei nicht bei ihnen, sondern beim Nachbarn gewesen und habe nur noch aus dessen Haus zu seiner Familie auf dem Balkon rüber rufen können, so schnell stieg das Wasser.

Seine Frau habe inzwischen psychologische Hilfe, dem Sohn gehe es in der neuen Umgebung gut, weil es dort Tiere und andere Kinder gebe. Er hätte in sechs Wochen eingeschult werden sollen. „Die Schule steht aber unter Wasser, und wir wissen noch nicht, wo wir dann sind.“

Svenja Böhm hilft einem befreundeten Paar in Rech, das Haus freizuräumen. „Sie haben alles verloren, hätten nächstes Jahr heiraten wollen“, erzählt sie. Und jetzt? „Die ganze Existenz ist unklar.“ Viele im Ort müssten wieder bei null anfangen. Sie persönlich sei zwar vom Schlimmsten verschont geblieben, „aber ich bin leer - innerlich“.

Mario Weise befreit sein Wohnhaus in Bad Neuenahr-Ahrweiler vom Schlamm. Vier Wohnungen habe er mit seinen Helfern schon komplett geräumt. „Bakterien, Öl, alles was man sich vorstellen kann, schwimmt da rum“, berichtet er sichtlich verzweifelt. „Es gibt weder Strom, noch Wasser im Moment.“ Er rechne damit, dass es mindestens drei Monate dauern werde, „bis alles wieder läuft“.

„Tagsüber räumen wir hier auf und nachts fahren wir zu Bekannten, wo wir übernachten und duschen können“, berichtet Weise. „Das machen die meisten hier so.“ Bis auf einige Ältere, die gar nicht weg wollten. Weise wartet auf einen Wassertank, um die Wände und die Wohnung ausspritzen zu können. „Öl, Fäkalien, alles klebt an den Wänden.“

 Anwohner und Ladeninhaber versuchen, ihre Häuser vom Schlamm zu befreien und unbrauchbares Mobiliar nach draußen zu bringen.

Anwohner und Ladeninhaber versuchen, ihre Häuser vom Schlamm zu befreien und unbrauchbares Mobiliar nach draußen zu bringen.

Foto: dpa/Thomas Frey

Viele, die in der Hochwasserkatastrophe nahezu alles verloren haben, wollen ihre harte, schweißtreibende und schmutzige Arbeit nicht unterbrechen, um von sich zu erzählen, sind auch genervt von schaulustigen Besuchern. Und es gibt so unendlich viel zu tun. Erst abends, wenn sie völlig erschöpft und viele Helfer wieder weg sind, findet der ein oder andere Zeit zu berichten, wie es ihm geht, viele kämpfen mit den Tränen.

„So richtig realisiert hat es noch keiner“, meint Appel. „Da ist nur der Drang, immer weiter zu machen.“

„Die Schönheit vom Ahrtal ist weg“, sagt ein 86 Jahre alter Mann aus dem lange Zeit nur über Boote und Feldwege im Wald erreichbaren südlichen Hauptteil von Rech. Eine knappe Woche nach der Katastrophe schaut er sich zum ersten Mal mit seiner Frau (83) und seinem Sohn (58) das Ausmaß der Zerstörung seines Heimatorts an.

„So ähnlich hat es am dritten Weihnachtstag 1944 hier ausgesehen.“ Es werde mindestens zehn Jahre dauern und viel Geld kosten, bis es wieder richtig schön sei. „Viele Leute haben aber keinen Mut mehr und wollen weg“, sagt seine Frau. Ihren Familiennamen wollen die „Ur-Recher“ nicht in der Zeitung lesen.

Die Menschen seien am Mittwochmittag von der Feuerwehr gewarnt worden, sagt die 83-Jährige. Der Wetterbericht habe ja auch von 100 Litern Niederschlag pro Quadratmeter gewarnt. „Aber es hat niemand geglaubt, dass es so kommt.“

„Das Hochwasser sollte schlimmer sein als 2016. Wir haben vielleicht mit einem halben Meter mehr gerechnet, aber das war eine Flutwelle - und man denkt nicht daran, dass das Haus wegschwimmt“, sagt Alexander Stodden vom Rotweingut Jean Stodden - einem Familienbetrieb von 1900. Seine älteste Tochter habe neben ihm gestanden, als die Tür aufsprang und das Wasser durch die Öffnung geschossen sei. Die Erinnerung an das Geräusch und das Bild habe die 15-Jährige zwei Nächte lang gequält.

„Wir kämpfen uns jetzt von Keller zu Keller und befreien das Weingut von Schlamm und Dreck“, sagt Stodden. Fließendes Wasser, die ganze Infrastruktur fehle. Einen Überblick über den gesamten Schaden habe er auch noch nicht. Wie es ihm geht? „Ich funktioniere zur Zeit.“

Die Hilfe sei langsam angelaufen, berichtet Stodden. „Wir haben am Donnerstag hier gesessen und es kam keiner.“ Über ihnen seien aber ständig Hubschrauber gekreist und Strom, Telefon und Handy funktionierten nicht mehr.

Auch jetzt laufe noch längst nicht alles optimal: „Am Nürburgring stehen Tausende Mann, die nicht wissen, wo sie hin sollen, und ich könnte ihnen Tausende Stellen nennen.“ Solche Kritik an der Koordination des Krisenstabs, dem Einsatz der professionellen Helfer ist überall zu hören. Der Recher Ortsbürgermeister und Polizist Dominik Gieler fordert daher einen festen Ansprechpartner für jeden Ort.

„Wir sind einfach nur froh, dass wir leben“, sagt Appel. Allerdings werde nach dem Corona-Jahr und verschiedenen Investitionen das Geld auch irgendwann zur Sorge seiner Familie werden. Und bis die Leute wieder Spaß hätten, ins Ahrtal und ins Hotel zu kommen, werde mindestens ein Jahr vergehen, „vielleicht auch viel länger“.

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