Kriegsende im Rheinland Die Brücke der Entscheidung
Remagen · Vor 75 Jahren rückt die Kleinstadt Remagen weltweit in die Schlagzeilen. Hitlers Befehl lautete: Sämtliche 40 Rheinbrücken sprengen! Doch eine hält stand. Wie eine Festung wurde die Ludendorff-Brücke für den Ersten Weltkrieg gebaut. Nun verkürzt sie den Zweiten Weltkrieg um Monate und rettet so Tausenden Menschen das Leben.
Am zweiten Weihnachtstag 1944 kreist ein Militärflugzeug hoch über dem Rheintal. Ein amerikanischer Aufklärer. Der Pilot findet sein Fotomotiv mühelos. Auf seiner Karte ist die „Ludendorff-Bridge“ rot markiert – und auch aus luftiger Höhe nicht zu übersehen: 325 Meter lang ist die stählerne, 4600 Tonnen schwere Eisenbahnverbindung über den Fluss, an beiden Ufern flankiert von je zwei mächtigen, 22 Meter hohen Wehrtürmen. Am östlichen Ufer verschwinden die beiden Gleise in einem 383 Meter langen Tunnel unter dem Felsmassiv der Erpeler Ley. Auf Remagener Seite führen die Gleise durchs Ahrtal und weiter nach Westen – Richtung Eifel und Ardennen. Ein ideales Ziel, um Hitlers Nachschub empfindlich zu stören.
Zwei Tage nach Silvester starten US-Bomber zum bislang sechsten und schwersten Angriff auf die Brücke von Remagen. Als sie abdrehen, liegen unzählige Häuser der Kleinstadt in Schutt und Asche. 35 Tote.
Aber die Brücke steht.
30 Jahre zuvor hatte ein Federstrich über das spätere Schicksal Remagens entschieden. Niemand weiß, wer den Strich an dieser Stelle der Landkarte des Rheinlandes gezogen hat. 1915, im zweiten Kriegsjahr des Ersten Weltkriegs. Das kaiserliche Heer benötigt neue, schnelle Nachschubwege für die Westfront, und so wird der Bau einer Eisenbahnbrücke zwischen Stromkilometer 632 und 634,5 befohlen. Kaiser Wilhelm II. verfügt, dass die neue Eisenbahnbrücke nach Erich Ludendorff benannt wird, dem Generalquartiermeister seiner Armee (und später einem jener einflussreichen Männer, die Adolf Hitler auf dem Weg nach oben protegierten).
Nicht irgendeine Brücke sollte da entstehen, sondern eine Festung mit Gleisanschluss, meterdicken Mauern aus Basalt für die Wehrtürme diesseits und jenseits des Rheins, mit Schießscharten und Geschützplattformen versehen.
Doch die Brücke wurde erst 1918 fertig und erlebte Truppenbewegungen nur noch in eine Richtung: von West nach Ost. Junge Männer mit alten Gesichtern, traumatisiert aus dem Grauen der Schützengräben entlassen, auf dem Weg nach Hause, in eine ungewisse Zukunft.
Die Ludendorff-Brücke: Eine Festung mit Gleisanschluss
27 Jahre später, am Abend des 6. März 1945, glaubt Feldwebel Jakob Kleebach, dass „seine“ Brücke schon bald Geschichte sein wird. Sein Vorgesetzter, Hauptmann Wilhelm Bratge, Kampfkommandant der Festung Remagen, Ostpreuße und im Zivilberuf Dorfschullehrer, hat ihm den Führerbefehl aus Berlin haarklein erklärt: Sämtliche 40 Rheinbrücken sind bei Herannahen des Feindes erst in letzter Minute, dann aber unverzüglich zu sprengen. Kleebach, gebürtiger Rheinländer, war als 18-jähriger Arbeiter am Bau der Brücke beteiligt. 1936, beim Einmarsch der Wehrmacht ins nach dem Ersten Weltkrieg entmilitarisierte Rheinland, machte man ihn zum Brückenmeister im Rang eines Feldwebels. Der gelernte Zimmermann hat Holzbohlen über die Gleise legen lassen, um den Rückzug deutscher Truppen bis zur letzten Minute zu ermöglichen. Die Brücke ist sein Lebensinhalt. Er findet sie ohnehin schon reichlich verunstaltet, durch die Bombenschäden und durch die Holzbohlen.
Das Sprengsystem stammt von Siemens. 24 Detonationspunkte, sicher ist sicher, maßgeformte Zinkbehälter, um den Sprengstoff aufzunehmen. Die von Stahlrohren geschützten Zündleitungen laufen im Erpeler Tunnel zusammen. Dummerweise sind sie in Reihe geschaltet — ist ein Sprengpunkt beschädigt, fällt das ganze System aus. Aber das ist nicht Hauptmann Bratges größte Sorge. Wie soll er ohne Sprengstoff sprengen? Die 600 Kilogramm Ekrasit sind nämlich weg. Vor Tagen auf höheren Befehl nach Köln abtransportiert.
Und noch etwas bereitet Bratge Kopfzerbrechen: Wie soll er die Brücke „bis zum letzten Atemzug“ verteidigen, wie es der Führer erwartet, wenn seine Sicherungskompanie nur noch aus 27 Mann besteht? Auf dem Papier sind es 400; aber ihm wurden in jüngster Zeit laufend Soldaten abgezogen. Warum, weiß er nicht. Als Soldat hat er nicht gelernt, Fragen zu stellen, sondern früh verinnerlicht, Befehle zu befolgen.
Das größte Problem für einen Soldaten vom Schlage Bratges ist jedoch, nicht zu wissen, wer ihn befehligt. Dass er sich mit seiner „Festung Remagen“ seit einigen Tagen im militärischen Niemandsland befindet, kann er nicht ahnen, da die Telefonverbindung gekappt ist.
Karl-Heinz Zimmermann wächst „on the wrong side of the tracks“ auf
Ebenso wenig ahnt Bratge, dass die Amerikaner an diesem Abend des 6. März schon sozusagen um die Ecke stehen: in Meckenheim. Nur 15 Kilometer Luftlinie von Remagen entfernt beginnt eine andere Welt. Die in den Ruinen von Meckenheim kampierenden Männer sind jenseits des Atlantik aufgewachsen; der Kadavergehorsam der deutschen Wehrmacht ist ihnen fremd. Sie sind in Europa, „to do a job“. Je besser und schneller sie ihn erledigen, desto eher dürfen sie wieder nach Hause. Kampfmüdigkeit und Traumatisierung nach der mörderischen Ardennen-Offensive der Wehrmacht und der SS sind kein Fall fürs Kriegsgericht, sondern für den Truppenpsychologen. Ihr großes Vorbild ist General George Patton. Der Befehlshaber der 3. US-Armee betrachtet den Krieg gern als großes Football-Spiel: ständig in Bewegung bleiben, den „anderen“ keine ruhige Minute gönnen.
Vielleicht ist das der Grund, warum der 23-jährige Second Lieu-
tenant, in dessen Pass der Geburtsname Karl-Heinz Timmermann und der Geburtsort Frankfurt am Main verzeichnet sind, nur 16 Stunden später sowohl Hitlers Führerhauptquartier in Berlin als auch General Dwight D. Eisenhowers Headquarter in Reims in heillose Verwirrung stürzen wird. Das ahnt er aber noch nicht, als er am Abend des 6. März in einem Meckenheimer Kellerloch einen Brief an seine Frau im fernen Nebraska schreibt: „Menschen sehen wir selten, und wenn, dann schießen sie auf uns. Anschließend hängen sie weiße Tücher an ihre Häuser. Liebe Vera, im Krieg liegt kein Ruhm. Nur wer nie in der Schlacht war, kann Glorie darin sehen. Sag Mutter, dass wir morgen am Rhein sind.“
Timmermanns Mutter ist Deutsche. Und sein Großvater väterlicherseits war 1871 aus Deutschland nach Nebraska ausgewandert. Karl-Heinz Timmermann verdankt seine Existenz dem Ungehorsam seines amerikanischen Vaters John Henry. Der ignorierte als US-Besatzungssoldat nach dem Ersten Weltkrieg das strikte Fraternisierungsverbot und verliebte sich in eine Frankfurterin. Als Maria schwanger wurde, hielt er ihr die Treue und wurde der Army untreu; er desertierte, hielt sich und seine schwangere Frau mit Aushilfsjobs über Wasser. Erst Jahre später ermöglichte ihm ein Amnestiegesetz, mit seiner jungen Familie nach Nebraska, in seine Heimatstadt nahe der kanadischen Grenze, zurückzukehren.
„Dein Vater ist ein Deserteur, ein Feigling“, hänselten die Nachbarskinder den kleinen Karl-Heinz. „Und ein Säufer obendrein.“ Tatsächlich fand der Vater, der Deserteur, in der Heimat keinen Job, verlor den Boden unter den Füßen, fing an zu trinken. Und der Sohn wuchs „on the wrong side of the tracks“ auf, wie die Amerikaner sagen, auf der falschen Seite der Eisenbahngleise, und lernte früh, die Mülltonnen der Stadt nach Essbarem zu durchsuchen.
Ein Loch in der rheinischen Verteidigungslinie
Während Karl-Heinz Timmermann in Meckenheim seinen Gedanken nachhängt, entdeckt Walter Model ein Loch in der rheinischen Verteidigungslinie. Der Generalfeldmarschall, der sein Quartier schon mal vorsorglich vom linksrheinischen Bad Tönisstein im Brohltal nach Deutz ans östliche Rheinufer verlegt hat, ordert bei General Maximilian Hitzfeld Truppen für Remagen. Der schickt keine Truppen, weil er keine Truppen mehr hat, aber seinen besten Mann für logistische Herausforderungen: Major Hans Scheller.
Das Abschlusszeugnis der Offiziersschule Potsdam hat sein Lehrmeister Erwin Rommel unterzeichnet. Polen, Frankreich, Russland, Eisernes Kreuz I. und II. Klasse. Nur vier kurze Male seit Kriegsbeginn hat der 33-Jährige seine Frau und seine beiden Kinder sehen können. Jetzt ist seine Frau zum dritten Mal schwanger. Noch in der Nacht zum 7. März bricht Major Scheller um 2.45 Uhr mit seinem Kübelwagen auf – im Ohr noch Hitzfelds Satz, von Model souffliert: „In Remagen wartet ein schlagkräftiges Bataillon auf Sie.“ Der erbärmliche Rest der Brückensicherung hat sich in der Fantasie der Generäle mächtig aufgebläht. Unterwegs geht Scheller das Benzin aus, er setzt die Odyssee schließlich mit einem Motorrad fort. Ein Wunder, dass er nicht den Amerikanern in die Hände fällt.
7. März, 10 Uhr: Fritzdorf haben sie schon hinter sich gelassen. Karl-Heinz Timmermann und seine Leute bilden die Vorhut für die 17 nagelneuen Pershing-Panzer. 16-jährige Hitlerjungen feuern Panzerfäuste auf sie ab und ergeben sich Minuten später mit erhobenen Armen: „Kamerad, Kamerad“, rufen die Halbwüchsigen beschwichtigend. Die GIs bleiben auf der Hut. Noch vor wenigen Monaten, in den Ardennen, hatten sie keinen Cent mehr auf ihr Leben verwettet, als die Tiger-Panzer der Waffen-SS wie Heuschrecken über sie herfielen. Noch ehe sie begriffen, dass dies der Krieg war, lagen 20.000 tot im Schnee. Aber jetzt, so kurz vor dem Rhein, ist das Leben wieder gefühlte Millionen Dollar wert.
11.30 Uhr: Hauptmann Bratge weiß nicht, über was er sich mehr ärgern soll. Über den hochgewachsenen Major im Ledermantel, der sich ihm als „neuer Kampfkommandant der Festung Remagen mit sofortiger Wirkung“ vorstellt, oder über die Last-
wagenladung, die zehn Minuten zuvor eintraf. Kein hochwertiger Ekrasit-Sprengstoff, sondern deutlich schwächeres Donarit. Und nicht die versprochenen 600 Kilogramm, sondern nur 300 Kilo.
Um 14.20 Uhr wird die Rampe zur Remagener Brücke gesprengt
Bratge und Scheller wissen nicht, dass sie bereits beobachtet werden. Auf einem Felsen beim Ausflugslokal „Waldschlösschen“ nahe der Apollinariskirche liegt Second Lieutenant Karl-Heinz Timmermann mit seinen beiden Sergeants Chinchar und DeLisio und starrt durch den Feldstecher. Die Stadt namens Remagen. Jenseits des Flusses die Erpeler Ley. Und dazwischen die „Ludendorff-Bridge“. Unzerstört! Die Kleinstadt erobern, den Rhein ignorieren, am diesseitigen Ufer nach Süden weiterziehen, den Schulterschluss mit General Pattons Armee suchen, Urlaubsscheine für Paris abholen. So lautet der Befehl. Und wenn wir stattdessen einfach über die Brücke spazieren?
In dem hübschen Schloss in Reims, in dem der Oberste Befehlshaber der Alliierten Streitkräfte in Westeuropa, General Dwight D. Eisenhower, sein Hauptquartier aufgeschlagen hat, gibt’s jetzt ein ernsthaftes diplomatisches Problem. Denn Winston Churchills britischem Feldmarschall Bernard L. Montgomery soll vereinbarungsgemäß die Ehre vorbehalten sein, mit seinen Truppen am 23. März bei Wesel am Niederrhein über den Fluss zu stoßen. Der Brite träumt von einem zweiten D-Day am Rhein, einer monströsen Materialschlacht an breiter Front, von einigen Hundert Landungsbooten und Flugzeugen. Die Planung erfordert Zeit und eine logistische Meisterleistung – und kalkuliert ein Massensterben ein.
14.20 Uhr: Major Scheller lässt die Rampe zur Brücke auf Remagener Seite sprengen. In seinem neuen Befehlsstand im Tunnel drängen sich Zivilisten, vorwiegend Frauen und Kinder. Sie suchen Schutz vor den amerikanischen Panzern, die nun unablässig vom Remagener Ufer aus feuern. Dem Major bleibt die Stimmung im Tunnel nicht verborgen: „Schluss mit dem Krieg“, rufen einzelne Frauen aus dem Dunkel. Die Stellung ist nicht länger zu halten, zumal sich unter den Zivilisten auch russische Zwangsarbeiter befinden. Also befiehlt Scheller die Sprengung der Brücke und verlässt den Tunnel landeinwärts, um Hitzfeld zu informieren und militärische Unterstützung aufzutreiben.
15.20 Uhr: Im Krater der gesprengten Rampe gehen Timmermann und seine Männer in Deckung. Infernalischer Lärm. Die Pershings feuern Richtung Erpel. Timmermann versucht, einen klaren Gedanken zu fassen: Die Rampe ist hin. Also können die Pershings nicht rüber. Jedenfalls nicht sofort. Erst müsste einer der Panzer zum Bulldozer umgerüstet werden, um eine neue Rampe herzustellen. Aber das geht gewöhnlich schnell. Sie haben eine intakte Brücke, die merkwürdigerweise von den Deutschen nicht gesprengt wurde. Sollen sie jetzt wirklich auf dieser Rheinseite bleiben und nach Süden abdrehen, so wie es der alte Marschbefehl vorsah?
In diesem Augenblick drückt Feldwebel Kleebach den Hebel der Zündanlage. Nichts.
Er drückt ein zweites Mal.
Nichts.
Und ein drittes Mal. Nichts.
Hauptmann Bratge findet einen Freiwilligen, der trotz des Dauerfeuers der GIs am jenseitigen Ufer und der deutschen MG-Schützen auf den Erpeler Brückentürmen bereit ist, aus dem Tunnel zu kriechen und die Zündschnur für eine Notsprengung in Brand zu stecken.
Ein Knall. Die GIs spüren das gewaltige Grollen und Beben, sie werfen sich instinktiv im Krater der ehemaligen Rampe zu Boden. Der stählerne Mittelbogen der „Ludendorff-Bridge“ löst sich von den Brückenpfeilern, schwebt eine gefühlte Ewigkeit wie eine Feder in der Luft – und sackt punktgenau in die Verankerungen zurück. Die Brücke steht, als sei nichts passiert.
Zivilisten entwaffnen deutsche Soldaten im Erpeler Tunnel
Als die Schockstarre verebbt, springen die GIs auf und sprinten los, unter Dauerbeschuss von deutscher Seite. Mehr als 300 Meter. Die beiden Nahkampf-Spezialisten Chinchar und DeLisio, aufgewachsen im New Yorker Stadtteil Little Italy, stürmen jeder einen der Brückentürme mit den MG-Nestern.
Derweil verbrennt Hauptmann Wilhelm Bratge im Erpeler Tunnel Akten, damit sie nicht dem Feind in die Hände fallen. Das Feuer lässt die aufgeheizten Gemüter der Zivilisten im Tunnel explodieren. Sie entwaffnen die deutschen Soldaten und ergeben sich den anstürmenden GIs. Hauptmann Bratge diktiert seinem Adjutanten: „Gegen unseren Willen sind weiße Fahnen gehisst worden.“ Er unterschreibt das Papier, ordnet und glättet seine Uniform, dann tritt der Offizier aus dem Tunnel, um mit dem jungen Amerikaner, den er Deutsch sprechen hört, die Formalitäten zu regeln. „Fuck off“, sagt
Second Lieutenant Timmermann und lässt ihn stehen.
Major Scheller schlägt sich zu General Hitzfelds neuem Gefechtsstand im Westerwald durch. Er hat soeben mit seinem Bericht begonnen, als Walter Model die Tür öffnet. Gespenstische Stille. Dann bricht der Generalfeldmarschall das Schweigen: „Da haben wir ja das Karnickel.“
Am nächsten Tag verurteilt ein fliegendes Standgericht der Wehrmacht auf Hitlers ausdrücklichen Befehl den Major zum Tode. Weil er „es fahrlässig unterlassen“ habe, die Brücke „rechtzeitig zu sprengen“.
Am frühen Nachmittag des 13. März wird Hans Scheller in einem Waldstück bei Altenkirchen von einem Hinrichtungskommando der Wehrmacht erschossen.