Vor 70 Jahren Die Brücke

Remagen · Am 7. März 1945 schreibt das Städtchen Remagen Weltgeschichte. Der Befehl aus Berlin lautet: Sämtliche 40 Rheinbrücken sprengen! Nur eine hält stand, weil der Zünder versagt. Wie eine Festung wurde die Ludendorff-Brücke für den Ersten Weltkrieg gebaut. Nun verkürzt sie den Zweiten Weltkrieg um Monate und rettet so Tausenden das Leben. Ein junger deutschstämmiger US-Offizier aus Nebraska handelt gegen ausdrücklichen Befehl und wird zum Helden. Ein deutscher Major handelt korrekt und wird auf Hitlers Befehl erschossen.

Am zweiten Weihnachtstag 1944 kreist ein Flugzeug hoch über dem Rheintal. Ein amerikanischer Aufklärer. Der Pilot findet sein Fotomotiv mühelos. Dank der Karte, auf der die "Ludendorff-Bridge" rot markiert ist. 325 Meter lang ist die stählerne, 4600 Tonnen schwere Eisenbahnverbindung über den Fluss. Am östlichen Ufer verschwinden die beiden Gleise in einem 368 Meter langen Tunnel unter dem Felsmassiv der Erpeler Ley. Auf Remagener Seite führt eine Abzweigung nach Westen - Richtung Ardennen. Ein ideales Ziel, um Hitlers Nachschub an die Westfront zu unterbinden. Zwei Tage nach Silvester starten US-Bomber zum nicht ersten, aber schwersten Angriff auf die Brücke. Als sie abdrehen, liegt das Winzerstädtchen in Schutt und Asche. Aber die Brücke steht.

30 Jahre zuvor hatte ein Federstrich über das spätere Schicksal Remagens entschieden. Den Strich zog Erich Ludendorff, Generalquartiermeister der Kaiserlichen Armee (und später Hitlers Steigbügelhalter), auf einer Landkarte des Rheinlandes. 1915. Das zweite Kriegsjahr im Ersten Weltkrieg. Die Reichswehr suchte neue, schnelle Nachschubwege für die Westfront, und so befahl Ludendorff den Bau einer Eisenbahnbrücke zwischen Stromkilometer 632 und 634,5.

Nicht irgendeine Brücke sollte da entstehen, sondern eine Festung mit Gleisanschluss, mit 22 Meter hohen Wehrtürmen diesseits und jenseits des Rheins, meterdicke Mauern aus Basalt, Schießscharten und Geschützplattformen. Doch die Brücke wurde erst 1918 fertig (der Tunnel erst 1919) und erlebte Truppenbewegungen nur noch in eine Richtung: von West nach Ost. Junge Männer mit alten Gesichtern, aus dem Grauen der Schützengräben entlassen, auf dem Weg nach Hause, in eine ungewisse Zukunft.

6. März 1945: 27 Jahre später, am Abend des 6. März, geht Feldwebel Jakob Kleebach seine Checkliste für die geplante Sprengung durch und prüft die Stromkreise. Sein Vorgesetzter, Hauptmann Wilhelm Bratge, Kampfkommandant der Festung Remagen, Ostpreuße und ehemaliger Oberlehrer, hat ihm den Führerbefehl aus Berlin haarklein erklärt: Sämtliche 40 Rheinbrücken sind bei Herannahen des Feindes erst in letzter Minute, dann aber unverzüglich zu sprengen. Kleebach, gebürtiger Rheinländer, war als 18-jähriger Arbeiter am Bau der Brücke beteiligt. 1936, beim Einmarsch der Wehrmacht ins bis dahin militärfreie Rheinland, machte man ihn zum Brückenmeister im Rang eines Feldwebels. Die Brücke ist sein Lebensinhalt. Und jetzt soll er sie sprengen. Er findet sie ohnehin schon reichlich verunstaltet durch die Bombenschäden und durch die Holzbohlen zwischen den Schienen, die den Lastwagen der Wehrmacht den Rückzug über den Rhein ermöglichen.

Das Sprengsystem stammt von Siemens. 24 Detonationspunkte, sicher ist sicher, maßgeformte Zinkbehälter für den Sprengstoff, die von Stahlrohren geschützten Zündleitungen laufen im Erpeler Tunnel zusammen. Dummerweise sind sie in Reihe geschaltet; ist ein Sprengpunkt beschädigt, fällt das ganze System aus. Aber das ist nicht Hauptmann Bratges größte Sorge. Wie soll er ohne Sprengstoff sprengen? Die 600 Kilogramm Ekrasit sind weg. Vor Tagen auf höheren Befehl nach Köln abtransportiert.

Und noch etwas bereitet Bratge Kopfzerbrechen: Wie soll er die Brücke bis zum letzten Atemzug verteidigen, wie es der Führer erwartet, wenn seine Sicherungskompanie nur noch aus 27 Mann besteht? Auf dem Papier sind es 400, aber ihm wurden laufend Soldaten abgezogen. Warum, weiß er nicht. Als Soldat hat er nicht gelernt, Fragen zu stellen, sondern Befehle zu befolgen. Das größte Problem für einen Soldaten vom Schlage Bratges ist jedoch, nicht zu wissen, wer ihn befehligt. Dass er sich mit seiner "Festung Remagen" seit einigen Tagen im militärischen Niemandsland befindet, kann er nicht ahnen, da die Telefonverbindung gekappt ist. Ebenso wenig ahnt Bratge, dass die Amerikaner an diesem Abend des 6. März schon um die Ecke stehen: in Meckenheim.

Nur 15 Kilometer Luftlinie von Remagen entfernt beginnt eine andere Welt. Die in den Ruinen von Meckenheim kampierenden Männer sind jenseits des Atlantiks aufgewachsen; der Kadavergehorsam der deutschen Wehrmacht ist ihnen fremd. Sie sind in Europa "to do a job". Je besser und schneller sie ihn erledigen, desto eher dürfen sie wieder nach Hause. Kampfmüdigkeit und Traumatisierung nach der mörderischen Ardennen-Offensive der Wehrmacht und der SS sind kein Fall fürs Kriegsgericht, sondern für den Truppenpsychologen. Ihr großes Vorbild ist General George Patton. Der Befehlshaber der 3. US-Armee betrachtet den Krieg gern als großes Football-Spiel: ständig in Bewegung bleiben, den "anderen" keine ruhige Minute gönnen.

Vielleicht ist das der Grund, warum der 23-jährige US-Leutnant, in dessen Pass der Geburtsname Karl-Heinz Timmermann und der Geburtsort Frankfurt am Main verzeichnet sind, nur 16 Stunden später sowohl Hitlers Führerhauptquartier in Berlin als auch General Dwight D. Eisenhowers Headquarter in Reims in heillose Verwirrung stürzen wird. Das ahnt er aber noch nicht, als er am Abend des 6. März in einem Meckenheimer Kellerloch einen Brief an seine Frau im fernen Nebraska schreibt: "Menschen sehen wir selten, und wenn, dann schießen sie auf uns. Anschließend hängen sie weiße Tücher an ihre Häuser. Liebe Vera, im Krieg liegt kein Ruhm. Nur wer nie in der Schlacht war, kann Glorie darin sehen. Sag Mutter, dass wir morgen am Rhein sind."

Seine Mutter ist Deutsche. Und sein Großvater väterlicherseits war 1871 aus Deutschland nach Nebraska ausgewandert. Karl-Heinz Timmermann verdankt seine Existenz dem Ungehorsam seines Vaters John Henry. Der ignorierte als US-Besatzungssoldat nach dem Ersten Weltkrieg das strikte Fraternisierungsverbot und verliebte sich in eine Frankfurterin. Als Maria schwanger wurde, hielt er ihr die Treue und wurde der Army untreu; er desertierte, hielt sich und seine schwangere Frau mit Aushilfsjobs über Wasser. Erst Jahre später ermöglichte ihm ein Amnestiegesetz der US-Regierung, mit seiner jungen Familie nach Nebraska, in seine Heimatstadt nahe der kanadischen Grenze, zurückzukehren.

"Dein Vater ist ein Deserteur, ein Feigling", hänselten die Nachbarskinder den kleinen Karl-Heinz. "Und ein Säufer obendrein." Tatsächlich fand John Henry, der Deserteur, in der Heimat keinen Job, verlor den Boden unter den Füßen, fing an zu trinken. Und der Sohn wuchs "on the wrong side of the tracks" auf, wie die Amerikaner sagen, auf der falschen Seite der Eisenbahngleise, und lernte früh, die Mülltonnen der Stadt nach Essbarem zu durchsuchen.

Während Karl-Heinz Timmermann in Meckenheim seinen Gedanken nachhängt, entdeckt Walter Model ein Loch in der rheinischen Verteidigungslinie. Der Generalfeldmarschall, der sein Quartier schon mal vorsorglich vom linksrheinischen Bad Tönisstein im Brohltal nach Deutz ans östliche Rheinufer verlegt hat, ordert bei General Maximilian Hitzfeld in der Vulkaneifel Truppen für Remagen. Der schickt keine Truppen, weil er keine Truppen mehr hat, aber seinen besten Mann für unlösbare Aufgaben: Major Hans Scheller.

Groß, sportlich, begeisterter Reiter. Das Abschlusszeugnis der Offiziersschule Potsdam hat sein Lehrmeister Erwin Rommel unterzeichnet. Polen, Frankreich, Russland bis zum Ende, Eisernes Kreuz I. und II. Klasse. Nur vier kurze Male seit Kriegsbeginn hat der 33-Jährige seine Frau und seine beiden Kinder sehen können. Jetzt ist seine Frau zum dritten Mal schwanger. Noch in der Nacht bricht Major Scheller um 2.45 Uhr mit seinem Kübelwagen nach Remagen auf.

7. März, 10 Uhr: Fritzdorf haben sie schon hinter sich gelassen. Karl-Heinz Timmermann und seine Leute bilden die Vorhut für die 17 nagelneuen Pershing-Panzer. 16-jährige Hitlerjungen feuern Panzerfäuste ab und ergeben sich Minuten später mit erhobenen Armen: "Kamerad, Kamerad." Die GIs bleiben auf der Hut. Noch vor wenigen Monaten, in den Ardennen, hatten sie keinen Cent mehr auf ihr Leben verwettet, als die Tiger-Panzer der Waffen-SS wie Heuschrecken über sie herfielen. Noch ehe sie begriffen, dass dies der Krieg war, lagen 20 000 ihrer Kameraden tot im blutrot gefärbten Schnee. Aber jetzt, so kurz vor dem Rhein, ist das Leben wieder Millionen Dollar wert.

11.30 Uhr: Hauptmann Bratge weiß nicht, über was er sich mehr ärgern soll. Über den hochgewachsenen Major, der sich ihm als "neuer Kampfkommandant der Festung Remagen" vorstellt, oder über die Lastwagenladung, die zehn Minuten zuvor eintraf. Kein Ekrasit-Sprengstoff, sondern schwächeres Donarit. Und nicht 600, sondern nur 300 Kilogramm. Feldwebel Kleebach macht sich an die Arbeit.

Sie wissen nicht, dass sie beobachtet werden. Auf einem Felsen beim Ausflugslokal "Waldschlösschen" liegt First Lieutenant Karl-Heinz Timmermann mit seinen beiden Sergeants Chinchar und DeLisio und starrt durch den Feldstecher. Die Stadt namens Remagen. Jenseits des Flusses die Erpeler Ley. Dazwischen die "Ludendorff-Bridge". Die Brücke! Unzerstört! Die Stadt erobern, den Rhein links liegen lassen, am diesseitigen Ufer nach Süden weiterziehen, den Schulterschluss mit General Pattons Armee suchen, Urlaubsscheine für Paris abholen. So lautet der Befehl. Und wenn wir stattdessen einfach über die Brücke spazieren?

"Auf keinen Fall!" Winston Churchills Antwort fällt ebenso laut wie knapp aus. Der Gefühlsausbruch des Briten hallt durch das Champagner-Schloss in Reims, Hauptquartier des Obersten Befehlshabers der Alliierten Streitkräfte in Westeuropa, General Dwight D. Eisenhower. Der sieht sich genötigt, Churchill zu besänftigen und zugleich US-General Omar Bradley einen Dämpfer zu versetzen: "Selbstverständlich halten wir uns an die Absprache - nicht wahr, Omar? Montgomery geht als erster über den Rhein!" Die "Absprache" hat weniger militärische als diplomatische Gründe. Churchills Feldmarschall Bernard L. Montgomery soll die Ehre vorbehalten sein, mit seinen Truppen am Niederrhein über den Fluss zu stoßen. Montgomery hält nichts vom Footballspiel - und lässt das die "Cowboys" Bradley und Patton deutlich spüren. Der Brite träumt von einem zweiten D-Day auf dem Rhein, einer Materialschlacht an breiter Front, von einigen hundert Landungsbooten und Flugzeugen. Die Planung erfordert Zeit und eine logistische Meisterleistung - und kalkuliert ein Massensterben ein.

14.20 Uhr: Major Scheller lässt die Rampe zur Brücke auf Remagener Seite sprengen und überquert den Rhein. In seinem neuen Befehlsstand im Tunnel drängen sich Zivilisten, vorwiegend Frauen und Kinder. Sie suchen Schutz vor den amerikanischen Panzern, die nun unablässig vom Remagener Ufer aus feuern. Mitten im Eisenbahntunnel stehen zwei Tankwaggons, randvoll mit Treibstoff. Dem Major bleibt die auch emotional explosive Stimmung im Tunnel nicht verborgen: "Schluss mit dem Krieg", rufen einzelne Frauen aus dem Dunkel. Die Stellung ist nicht mehr zu halten, zumal sich unter den Zivilisten auch russische Zwangsarbeiter befinden. Also befiehlt Scheller die Sprengung der Brücke und verlässt den Tunnel landeinwärts, um Unterstützung zu organisieren.

15.20 Uhr: Im Krater der gesprengten Rampe gehen Timmermann und seine Männer in Deckung. Ein infernalischer Lärm. Die Pershings feuern Richtung Erpel, deutsche Flak-Batterien auf den Erpeler Höhen nehmen die Remagener Seite unter Beschuss. "Die Rampe ist hin. Also können die Pershings nicht rüber. Aber die Brücke steht. Sollen wir wirklich nach Süden abdrehen?" Timmermann sieht Chinnar und DeLisio in die Augen. Die grinsen. Timmermann springt auf und rennt los, Chinnar und DeLisio ihm nach.

In diesem Augenblick drückt Feldwebel Kleebach den Hebel der Zündanlage. Nichts. Er drückt ein zweites und ein drittes Mal. Nichts. Hauptmann Bratge findet einen Freiwilligen, der trotz des Dauerfeuers der GIs und der deutschen MG-Schützen auf den Erpeler Brückentürmen bereit ist, aus dem Tunnel zu robben und die Zündschnur für die konventionelle Notsprengung in Brand zu stecken.

Die GIs spüren das gewaltige Beben, werfen sich zu Boden, klammern sich an die Stahlträger. Der Mittelbogen löst sich von den Brückenpfeilern, schwebt eine gefühlte Ewigkeit in der Luft - und sackt punktgenau in die Verankerungen zurück. Die GIs sprinten weiter, die letzten der 325 Meter unter Dauerbeschuss von deutscher Seite.

Die beiden Nahkampf-Spezialisten Chinchar und DeLisio stürmen jeder einen Brückenturm mit den MG-Nestern. Das haben sie nicht bei der Army, sondern bei den Straßen-Gangs im New Yorker Stadtteil Little Italy gelernt, erzählen sie später. Derweil verbrennt Hauptmann Wilhelm Bratge im Tunnel Akten, damit sie nicht dem Feind in die Hände fallen. Die Feuerstelle in Kombination mit den Tankwaggons lässt die Gemüter der Zivilisten explodieren. Sie entwaffnen die deutschen Soldaten und ergeben sich den anstürmenden GIs. Bratge diktiert seinem Adjutanten: "Gegen unseren Willen sind weiße Fahnen gehisst worden." Er unterschreibt, verlässt den Tunnel und will mit dem Amerikaner, den er Deutsch sprechen hört, die weiteren Formalitäten regeln. "Fuck off", sagt First Lieutenant Timmermann und lässt ihn stehen.

Major Scheller schafft es, sich zu General Hitzfelds neuem Gefechtsstand im Westerwald durchzuschlagen. Er hat mit seinem Bericht begonnen, als Walter Model die Tür öffnet. Als Scheller endet, herrscht Stille. Dann bricht der Generalfeldmarschall das Schweigen: "Da haben wir ja das Karnickel."

Einen Tag später verurteilt ein fliegendes Standgericht der Wehrmacht auf Hitlers Weisung den Major zum Tode. Am Morgen des 9. März wird Hans Scheller in einem Waldstück bei Altenkirchen von einem Hinrichtungskommando der Wehrmacht erschossen.

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