Überlebender wohnte in Altenahr Wie sich die „Edelweißpiraten“ gegen das Naziregime stellten

Altenahr · Der „Edelweißpirat“ Ferdinand Steingass lebte auf dem Kreuzberger Campingplatz in Altenahr und starb vor zehn Jahren im Maternus-Stift. Die „Edelweißpiraten“ schlossen sich zusammen, um gegen das Naziregime zu kämpfen. Einige wurden damals in Köln hingerichtet.

 Aufmüpfig und wild: „Edelweißpiraten“ in einem Fernsehfilm, der im Jahr 2008 im Ersten gezeigt wurde.

Aufmüpfig und wild: „Edelweißpiraten“ in einem Fernsehfilm, der im Jahr 2008 im Ersten gezeigt wurde.

Foto: picture-alliance/ obs/WDR

35 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, im Jahr 1980, zog Ferdinand Steingass mit seiner Ehefrau und Hund auf den Campingplatz „Viktoria Station“ in Kreuzberg. Von diesem Ortsteil der Gemeinde Altenahr fuhr er mit seinem VW-Bus von Markt zu Markt, wo er Pullover verkaufte. Nachdem seine Frau verstorben und er selbst an Krebs erkrankt war, zog Steingass ins Maternus-Stift in Kreuzberg um, wo er am 31. Oktober 2009, vor gut zehn Jahren also, starb.

Wer war dieser Ferdinand Steingass? Um das zu erhellen, geht der Blick zurück zum 10. November 1944. Damals, vor 75 Jahren, erhängten die Nationalsozialisten am Bahnhof des Kölner Stadtteils Ehrenfeld 13 halbwüchsige Männer. Der jüngste von ihnen war gerade 16 Jahre alt. Ihr Vergehen hatte darin bestanden, dass sie sich zu „Edelweißpiraten“ zusammengeschlossen und gegen das Naziregime gestellt hatten.

Hunderte Kölner versammelten sich an diesem nasskalten Novembernachmittag hinter dem Bahnhof, um der makabren Machtdemonstration der Gestapo beizuwohnen. Die Delinquenten wurden gefesselt zu einer improvisierten Richtstätte mit eilig zusammengezimmerten Galgen geführt. Dort stellte man sie auf erhöhte Holzbohlen und legte Hanfseilschlingen um ihre Hälse. Augenbinden gab es nicht; die Jugendlichen sollten ihren Henkern direkt in die Augen sehen.

Ferdinand Steingass wurde vor Hinrichtung verschont

Ein weiterer Edelweißpirat, der 1929 geborene Ferdinand Steingass, wurde nicht ermordet. Wohl deshalb, weil er nicht den bewaffneten Edelweißpiraten aus dem Stadtteil Ehrenfeld angehörte, sondern gemäßigteren Gesinnungsgenossen aus Köln-Sülz.

Trotzdem war auch Steingass im Monat zuvor, im Oktober 1944, verhaftet, verprügelt und eingesperrt worden. Erst sechs Monate später, als Köln von den Amerikanern eingenommen worden war, kam er wieder frei. 38 Kilogramm wog er da noch, und er litt unter Fleckfieber.

 In der jungen Bundesrepublik nutzte Ferdinand Steingass jede sich bietende Gelegenheit, um von den aufmüpfigen Edelweißpiraten und von den Repressalien der Nazis, die sie erleiden mussten, zu berichten.

So erzählte Steingass während einer öffentlichen Veranstaltung im Rahmen der Antonius-Kirmes in Kreuzberg im Januar 2009, auf dem Kopf ein Barrett mit Edelweißbrosche, von seiner Zeit als Edelweißpirat. Die jungen Leute seien zunächst keine Widerstandskämpfer gewesen, sagte er, „eigentlich waren wir so etwas wie Pfadfinder, naturbegeisterte Wanderfreunde, die am liebsten mit der Gitarre in der Hand auszogen, Lieder sangen und durch die Wälder wanderten.“

Dieser freiheitsliebenden Lebensweise habe die Hitlerjugend (HJ) gegenüber gestanden, der bis zu 98 Prozent aller deutschen Jugendlichen angehörten. „Jeder Deutsche musste im Alter von zehn Jahren in die HJ eintreten“, sagte Steingass, „das passte uns gar nicht, wir wollten nämlich nicht marschieren und gedrillt werden, wir wollten unsere Freiheit.“

Edelweißpiraten wurden erst 1994 als Widerstandskämpfer anerkannt

Tatsächlich kamen Steingass und seine Freunde dank eines wohlwollenden und für ihre Einberufung zuständigen Nationalsozialisten um die HJ-Mitgliedschaft herum. Doch der Konflikt brodelte. „Wir waren zwölf-, 13- oder auch 14-jährige Jungs. Trafen wir auf die HJ, kam es nicht selten zu Prügeleien. Wir fühlten uns provoziert und provozierten, und mit der Zeit entwickelten wir eine anti-nationalsozialistische Einstellung.“ Aus harmlosen Aufmüpfigkeiten seien gezielte Sabotageakte geworden.

„Wir schrieben Parolen wie ‚Freiheit, Demokratie‘ und ‚Nieder mit den Nationalsozialisten‘ auf Fabrikwände“, sagte Steingass. Deshalb wurden die Edelweißpiraten den Nationalsozialisten mehr und mehr ein Dorn im Auge. Und so kam es, dass Steingass im Oktober 1944 zusammen mit Jean Jülich, einem Freund, verhaftet wurde. Nach dem Ende von Krieg und Nazi-Gewaltherrschaft galten die Edelweißpiraten offiziell noch viele Jahre lang als Verbrecher. Erst 1994 wurden sie rehabilitiert und als Widerstandskämpfer anerkannt. Das ist vielleicht auch ein Verdienst von Ferdinand Steingass, der sich jahrzehntelang dafür eingesetzt hatte, dass die „Edelweißpiraten“ nicht in Vergessenheit gerieten.

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