Dem Richter blieb nur die Flucht nach Bonn

Mit immer schärferen Drohungen sollen Prozessbeteiligte im Bonner Drogenverfahren in die Knie gezwungen werden - Deren Sicherheit aber hängt kurioserweise vom jeweiligen Wohnsitz ab

An vorderster Front  im Kampf gegen das organisierte Verbrechen stehen auch die Polizisten, die das Gericht schützen.

An vorderster Front im Kampf gegen das organisierte Verbrechen stehen auch die Polizisten, die das Gericht schützen.

Foto: Barbara Frommann

Bonn. Den niederländischen Ermittlern stockt der Atem. Soeben hat Hüseyin Baybasin, der kurdische Drogenboss, dessen Telefon sie seit Wochen überwachen, einen Mordauftrag erteilt. Der Pate, wie er genannt wird, der zuvor schon einen Konkurrenten aus dem Weg räumen ließ, hat es diesmal auf einen honorigen Uniprofessor in Amerika abgesehen - weil er aus geschäftlichen Gründen dessen Bruder treffen will. Doch der Professor bekam Wind von der Gefahr, engagierte Leibwächter, und nun hören die holländischen Ermittler, wie der Pate seinen Männern befiehlt: "Bringt alle um."

Für die Niederländer steht fest: Hüseyin Baybasin muss sofort aus dem Verkehr gezogen werden, um ein Massaker zu verhindern. Und mit ihm ein halbes Dutzend Mitglieder des Clans, denn die Macht des Paten wird gestützt durch seine über Europa verteilte Familie, die längst im Visier europäischer Fahnder steht.

Um 7 Uhr an einem Märzmorgen 1998 schlagen zeitgleich Kriminalbeamte in den Niederlanden, in Großbritannien, Belgien, der Türkei und in Deutschland zu. Auch Hüseyin Baybasins Cousin Nizamettin wird gefasst - und wieder auf freien Fuß gesetzt. 1999 aber wird er verhaftet, als er sich offenbar anschickt, das Land mit einem gefälschten Pass zu verlassen. Der mutmaßliche Finanzchef des Mafia-Clans lebt legal in Deutschland. Er ist mit einer Deutschen verheiratet - für die Ermittler eine Scheinehe. Wohnsitz und Firmenadresse: Bonn.

Deshalb sind für ihn nun Bonner Ermittler und Bonner Richter zuständig. Nizamettin B. wird angeklagt, den Handel mit einer dreiviertel Tonne reinen Heroins aus der Türkei via Deutschland in die Niederlande organisiert zu haben. Im März 2000 beginnt der Prozess gegen den 38-Jährigen vor dem Bonner Landgericht. Und plötzlich ist die Bedrohung von Mafia-Jägern und ihren Familien, wie wir sie aus dem Kino kennen, hier lebensgefährliche Wirklichkeit. Palermo in Bonn.

"Bringt alle um"

Bonn, im Juli 2001: Das Landgericht gleicht einer Festung. Schwerbewaffnete Polizisten sichern das Gebäude, niemand kommt ohne Durchsuchung hinein. Die Ehefrau des Vorsitzenden Richters der 1. Großen Strafkammer weiß schon lange nicht mehr, wie es ist, durch die City zu bummeln oder schnell mal um die Ecke einzukaufen. Bewaffnete Polizisten standen vor dem Kreißsaal, als sie ihr Kind zur Welt brachte. Ihr Wohnhaus wurde in eine Festung verwandelt. Der Staatsanwalt und seine Familie teilen ihr Schicksal. Auch der Chef der Drogenfahndung steht unter Schutz. Denn seit November 2000 gehen regelmäßig Drohbriefe ein; die Drohungen nehmen an Schärfe zu und richten sich auch gegen Familienmitglieder der Prozessbeteiligten. Die Bonner Polizei stuft die Gefährdung als sehr hoch ein. Sie ist sicher:

Man hat es mit einer führenden kurdischen Mafiafamilie zu tun, die den europäischen Drogenmarkt weitgehend kontrolliert, über sehr, sehr viel Geld verfügt - und allerbeste Verbindungen.

Wie gut die möglicherweise sind, machte eine Strafkammer des Frankfurter Landgerichts Anfang 1997 publik und war am 23. Januar 1997 sogar der "Washington Post" 114 Zeilen wert. Kammervorsitzender Rolf Schwalbe hielt nach einem vor seinem Gericht verhandelten Drogenprozess mit seiner Überzeugung nicht hinterm Berg: Der Drogenmarkt in Europa werde von zwei türkisch-kurdischen Familien kontrolliert, und beide Clans unterhielten beste Beziehungen zur türkischen Regierung. Das löste diplomatische Verwicklungen aus: Die Regierung in Ankara forderte beim deutschen Botschafter eine offizielle Entschuldigung des Richters ein, doch Außenminister Klaus Kinkel klärte seinen türkischen Kollegen über abendländisches Rechtsverständnis und richterliche Unabhängigkeit in Deutschland auf.

Richter Schwalbe steht mit seiner Ansicht nicht allein: Auch Interpol nennt eine der beiden Familien beim Namen: der Baybasin-Clan, dessen geschätzte 150 Mitglieder Dependancen in halb Europa unterhalten. Und die "Washington Post" schrieb, dass der Clan nicht nur freundschaftliche Beziehungen zur türkischen Regierung pflege, sondern auch von der verbotenen kurdischen PKK als Mäzen geschätzt werde. Den Bonner Richtern wurde die Macht des Clans nach ihrer Rückkehr aus der Türkei, wo sie inhaftierte Zeugen vernommen hatten, endgültig klar: Informationen aus der Türkei zufolge, die deutschen Ermittlern zugespielt wurden, soll ein Killerkommando in der Türkei auf den Bonner Kammervorsitzenden angesetzt worden und nur deshalb gescheitert sein, weil der Richter auf dringendes Anraten seiner mitgereisten Bonner Personenschützer das Hotel wechselte.

Im Mai 2001 gewann die Bedrohungslage erneut an Brisanz: Im Gefängnis wurde ein an den Untersuchungshäftling Nizamettin B. gerichteter Brief abgefangen; sein Inhalt ist ebenso kryptisch wie bedrohlich: Von einer baldigen großen "Feier" in Deutschland ist da die Rede, über die Presse und Fernsehen berichten würden. Und einer der für B.`s missliche Lage Verantwortlichen werde auf jeden Fall als Gast dabei sein. "Deine Freunde, mit denen du deinen Militärdienst abgeleistet hast, haben ein Unternehmen gegründet. Sie schlachten Tiere und verkaufen Fleisch", heißt es weiter. Und: Es seien noch weitere Freunde geschickt worden, die bald nach Deutschland kämen, um "im Schlachthof zu arbeiten".

Die Bonner Polizei, die aus Hauptstadt-Tagen über viel Erfahrung mit Bedrohungslagen verfügt, sieht ihre Analyse bestätigt: Den Prozessbeteiligten, die sich der Gefahr aussetzen, der Organisierten Kriminalität im Staatsinteresse die Stirn zu bieten, muss der bestmögliche staatliche Schutz gewährt werden. Doch die beiden beisitzenden Richter der Strafkammer haben das Pech, nicht in Bonn zu wohnen, sondern in Rheinland-Pfalz und in Köln.

Somit sind für ihre Sicherheit und die Einschätzung ihrer Gefährdung das Landeskriminalamt in Mainz und das Kölner Polizeipräsidium zuständig. Und die beurteilen die Lage offensichtlich anders als ihre Bonner Kollegen, die die Brisanz des Verfahrens kennen, wie deren Sprecher Markus Tölle dem General-Anzeiger bestätigte: "Wir haben eine Gefährdungsanalyse erstellt und nehmen das Ergebnis sehr ernst."

Warum die Polizei in Köln die Lage für den dort lebenden Richter nicht so ernst nimmt, konnte auch eine Anfrage nicht klären. "Über Art und Umfang von Sicherheitsmaßnahmen werden grundsätzlich keine Angaben gemacht", sagte deren Sprecher Jürgen Laggies. Weitere Antworten musste er deshalb schuldig bleiben, zum Beispiel auf die Fragen: Warum wird der Richter zwar zum Dienst gefahren, ansonsten aber ohne Schutz gelassen? Reicht es aus, nur einmal pro Stunde einen Streifenwagen bei seinem Haus vorbeizuschicken - und das angesichts eines anonymen Drohanrufs, der vor wenigen Tagen bei der für den Richter zuständigen Kölner Polizeiwache einging?

Der Anrufer, der genau wusste, wo der Richter wohnt, obwohl dessen Anschrift nicht öffentlich zu erfahren ist, machte klar: Man werde sich den Richter schnappen, und dagegen könne niemand etwas tun. Beim Regierungspräsidenten (RP), Aufsichtsbehörde der Polizei in Bonn und Köln, weiß man jedoch nichts von Problemen. Nachfragen bei den zuständigen Stellen ergaben nach Auskunft von RP-Sprecher Hermann-Josef Borjans: Alle seien sich über das Schutzkonzept völlig einig. Alle würden gleichermaßen geschützt.

Der betroffene Richter hat sich jetzt selbst geholfen. Weil er in Köln nicht geschützt wird, hat er sich zu seinem in Bonn lebenden Vorsitzenden geflüchtet - Zwangs-WG mit Ehefrau und Säugling hinter Panzerglasscheiben, Polizeibewachung Tag und Nacht. Köln meint dazu auf Anfrage: "Dafür hat er andere Gründe."

Polizei im Kreißsaal

Dabei sind die zwei Beisitzer für das Verfahren genau so wichtig wie der Vorsitzende: Würde einer der Beiden ausfallen, müsste der aufwändige und kostenintensive Prozess platzen - und der mutmaßliche Mafiaboss B. möglicherweise auf freien Fuß gesetzt werden, sofern er das Scheitern des Prozesses nicht verschuldet hätte und ihm nach dem Gesetz eine noch längere Untersuchungshaft nicht zuzumuten ist. Das wäre dann nicht nur teuer, sondern auch eine Kapitulation vor der Organisierten Kriminalität.

Nizamettin B.`s Cousin in den Niederlanden, Hüseyin Baybasin, wurde übrigens wegen seiner Mordaufträge von einem Gericht in Breda zur härtesten Strafe verurteilt, die das niederländische Strafgesetz vorsieht: 20 Jahre verschärfte Einzelhaft. Während des Prozesses wurden drei Männer verhaftet, die versucht hatten, den Drogenboss zu befreien.

Dazu der Kommentar: Palermo in Bonn

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