Die Geschichte einer tiefen Freundschaft Für Familie Zoto ist sie ein Engel

BONN · Fronleichnam, 2014: Angelika Engel ist sportlich in den freien Junitag gestartet. Die 52-jährige Verlagskauffrau verlässt gerade ihr Fitnessstudio am Brückenforum als ihr ein einsamer Junge mit einem Haufen Pfandflaschen auffällt.

 Familie Zoto aus Albanien und Angelika Engel auf dem Petersberg (v.l.): Gabriel, Dashamir, Sara, Angelika Engel, Esmeralda und Kristof Zoto.

Familie Zoto aus Albanien und Angelika Engel auf dem Petersberg (v.l.): Gabriel, Dashamir, Sara, Angelika Engel, Esmeralda und Kristof Zoto.

Foto: privat

"Ich brauche Hilfe, können Sie mir helfen?" fragt das Kind sie auf Englisch. Engel zögert. Sie weiß nicht, dass der zwölfjährige Gabriel vor dem Supermarkt auf seinen Vater und seinen Bruder wartet. Die halbe Nacht waren sie unterwegs, haben Pfandflaschen eingesammelt, die WM-begeisterte Fußballfans zurückgelassen haben.

Sie ahnten ja nicht, dass der deutsche Supermarkt heute Morgen nicht öffnen wird. "Wir müssen eine Karre holen, um die Flaschen zu transportieren", hatte der Vater dem Jungen gesagt. Wie lange war das her? Eine halbe Stunde, eine oder zwei Stunden? Gabriel hat Angst, ihm kommen die Tränen.

"Er stand da, mit so einer ehrlichen Traurigkeit, dass ich helfen musste. Irgendwie wusste ich in diesem Moment: Das verändert mein Leben", sagt Angelika Engel heute, ein Jahr nach der ersten Begegnung. Dank der Bonnerin hat Gabriel seinen Vater Dashamir und seinen Bruder Kristof wiedergefunden.

Nachdem sich die drei unter Tränen wieder in die Arme geschlossen haben, fährt sie Vater und Söhne nach Hause, wo sie auch die übrigen Mitglieder der Familie Zoto kennenlernte: Mutter Esmeralda und die siebenjährige Tochter Sara. Dank der Söhne, die in der Schule Englisch gelernt hatten, kommt die Deutsche mit der albanischen Familie ins Gespräch.

Hätte Angelika Engel sich nun umgedreht und wäre gegangen, wäre sie vermutlich mit dem zufriedenen Gefühl heimgekehrt, eine gute Tat vollbracht zu haben. Aus der Begegnung wäre eine Anekdote, später dann eine verblasste Erinnerung geworden.

Doch sie bleibt und erfährt: Die Eltern stammen aus Albanien. Fast 20 Jahre lebten sie aber bereits in Griechenland. Dort hatte Dashamir, gelernter Mechaniker, eine Anstellung als Handwerker. 2010, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, verliert er den Job. Mit dem Zug gelangt die Familie nach Deutschland.

Die Auffanglager Dortmund und Schöppingen im Münsterland sind erste Stationen bis sie nach Bonn kommen. "Die Geburtsstadt Beethovens - das wird uns Glück bringen", sagt der Vater seinen Kindern, als er erfährt, welchem Ort seine Familie zugeteilt worden ist.

Umdrehen und wegschauen, ist für Engel jetzt unmöglich. Wenige Tage später besucht sie die Familie wieder. Sie hat in ihrem Bekanntkreis nach Spenden gefragt - nach Kleidung, Essen und den nötigsten Haushaltsgegenständen. Außerdem überreicht sie dem Vater ihre Visitenkarte mit ihrem Namen und ihrer Telefonnummer. Was er darauf liest, kann der 44-jährige Katholik zunächst nicht glauben. Bislang verstehen die Eltern nur wenige Worte Deutsch. Aber was "Engel" bedeutet, weiß er.

"Meine Freunde und Bekannte sagten zuerst 'das gibt es doch nicht' als ich erzählt hab, was passiert war", so Engel. "Einige haben sicher auch gedacht, 'jetzt spinnt sie total'." Auch ihr Ehemann sei zunächst skeptisch gewesen. "Wenn ich gemerkt hätte, dass ich irgendwie ausgenutzt werde, hätte ich den Kontakt abgebrochen", sagt sie. Doch es sollte anders kommen. Aus der zufälligen Begegnung und der spontanen Hilfe für ein Kind erwächst innerhalb weniger Wochen ein gegenseitiges Geben und Nehmen - eine Freundschaft.

Dashamir Zoto revanchiert sich mit Reparaturen und kleineren Renovierungsarbeiten. "Ich habe ein Problem, mit dem Begriff 'Wirtschaftsflüchtlinge', der oft auf Menschen aus den Balkanländern bezogen wird", sagt Engel heute. "Ich habe Menschen kennengelernt, die einfach in Frieden leben und für Einkommen arbeiten wollen."

Engel lädt die Zotos zu sich ein, stellt sie ihrer Mutter vor und ihren Freunden. Gemeinsam machen sie Ausflüge auf dem Rhein und zum Petersberg. Im August bekommt der Vater einen Minijob beim Amt für Stadtgrün und hat Freude an der Arbeit. Sein Sohn Kristof sagt: "Ich habe mich noch nie so frei und sicher gefühlt wie in Bonn."

In der Nacht, bevor sich die Wege von Gabriel und Angelika Engel kreuzten, spielte Dashamir mit dem Gedanken, Deutschland wieder zu verlassen, jetzt scheint es, als seien sie endlich angekommen. Doch dann meldet sich die Ausländerbehörde.

Engel übersetzt die Briefe und begleitet die Eltern sogar, wenn ein Behördenbesuch notwendig ist. "Ich hatte mich vorher nie mit dem Thema beschäftigt", so Engel. Selbst sie, die die Sprache der deutschen Behörden versteht, musste sich zunächst richtig in das Thema einarbeiten.

Als die Zotos ein Schreiben bekommen, in dem ihre Abschiebung mitgeteilt wird, ist die Familie traurig aber gefasst. Engel hat sie vorbereitet. Trotz der bürokratischen Hürden, hat sie Verständnis für das Handeln der Ämter. "Es gibt schon eine gewisse Logik, die dahinter steht", sagt sie. Die Familie fliegt Mitte September 2014 zurück nach Griechenland. Doch Engel hält Kontakt.

Die Familie bietet ihr an, dass sie sie in Athen besuchen kann. Im Dezember fliegt sie nach Athen und reist Ende des Jahres mit der Familie sogar noch weiter bis nach Albanien. Ein halbes Jahr ist es her, dass sie einen hilflosen Jungen und seinen Pfandschatz nach Hause gebracht hatte, nun teilt sie sich mit Esmeralda in einem kleinen Häuschen in deren Heimatdorf Vlore ein Bett.

"Ich habe so viel gewonnen durch die Begegnung", sagt Engel. Dazu zählt sie auch die Erfahrung, die eigenen alltäglichen Problemchen nicht allzu ernst zu nehmen. Dank Familie Zoto, habe sie ihren Blick geschärft: Gemeinsam lachen, den Augenblick genießen, nicht zu pingelig zu sein und zu viel Sorgen an die Zukunft zu verschwenden. Zurück nach Deutschland, zurück nach Bonn - das ist auch weiterhin die Hoffnung der Zotos und der Wunsch von Angelika Engel. Und es besteht durchaus Hoffnung.

"Dashamir hat durch seine lange Tätigkeit in Griechenland Anspruch auf EU-Bürger-Status", erklärt Engel. Bislang mahlen die Mühlen der griechischen Bürokratie allerdings sehr langsam. Was dann noch fehlt, wäre eine Wohnung in Bonn und eine feste Anstellung für ein Elternteil. "Das könnte zum Beispiel eine Gebäudereinigungs- oder auch Gartenbaufirma sein", sagt die Bonnerin.

Sie hat es nicht bereut, mit der Familie in Kontakt gekommen zu sein, auch wenn sie anfangs nicht gewusst habe, wohin sie ihr Engagement führt. "Im Gegenteil, ich habe gemerkt, wie viel Energie das in mir freigesetzt hat", sagt sie. Nun hofft sie, dass sich auch ein Arbeitgeber oder Vermieter auf die fremden Menschen einlässt.

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