Für Psychiater ist Michaela G. voll schuldfähig

Ob die Altenpflegeassistentin im Berkumer Limbachstift die Tötungen erfand, weiß auch er nicht - Angeklagte leidet an "Mythomanie"

Für Psychiater ist Michaela G. voll schuldfähig
Foto: Frommann

Bonn. Log sie damals oder lügt sie heute? Hat sie zwischen November 2003 und April 2005 im Limbachstift neun pflegebedürftige Seniorinnen getötet, wie sie früher gestand, oder hat sie das wie so vieles vorher nur erfunden, wie sie jetzt beteuert? Auch an diesem siebten Verhandlungstag im Mordprozess gegen die 27-jährige Altenpflegeassistentin Michaela G. versucht das Schwurgericht die Wahrheit zu ergründen - diesmal mit Hilfe des psychiatrischen Gutachters Wolf Gerlich.

Wahrheit oder Lüge? Auch der erfahrene Gutachter hat keine Antwort. Seine Begutachtung ergab: Die 27-jährige leidet an Mythomanie, sie muss ständig Lügengeschichten erzählen, um Zuwendung zu erhalten. Und: Sie ist so beeinflussbar, dass sie sich auch im Stress durch die polizeilichen Vernehmungen in Lügenkonstrukte begeben haben könnte. Aber, so Gerlich: "Starke Indizien gibt es dafür nicht." Das Bild, das er zeichnet, zeigt die "zerrissene Persönlichkeit" der Angeklagten.

Für Gerlich zeigt Michaela G. Anzeichen einer Borderline-Störung: Ihre Persönlichkeit ist gespalten zwischen ihrer Gier nach Zuneigung und Wärme und ihrer Unfähigkeit, Nähe auszuhalten; ihrer Geltungssucht einerseits und ihrer schweren Selbstwertstörung andererseits. Viele mit einer solchen Störung seien wie sie sogenannte Sandwichkinder, das mittlere von drei Geschwistern, das nie so groß werden kann wie die ältere und seinen Status als Nesthäkchen auch aufgeben muss.

Michaela G. sei schon als Kind auffällig geworden und noch mit zehn Jahren nachts zur Mutter ins Bett gekrochen. Und sie habe früh erkannt, welche Zuwendung sie mit Lügen erhalte, als sie mit neun Jahren nach einem Treppensturz in der Schule ihr blaues Auge den Schlägen ihres Vaters zuschrieb. Ihre Eltern hätten nichts bemerkt von ihrer Angst, ihren Status als "Hoferbe Michel" zu verlieren - und auch nicht von ihrer Bedürftigkeit und ihrem Selbstwertmangel.

Dann sei 1992 auch noch der einzige Mensch qualvoll gestorben, von dem sie sich geliebt fühlte: die Großmutter. Sie selbst beschrieb 1992 als Horrorjahr, in dem sie erstmals vom Großvater missbraucht worden sei. Dass ein Missbrauch stattfand, hält der Gutachter für wahrscheinlich. Und für denkbar, dass es der Großvater war und nicht der Vater, wie sie 13 Jahre lang zahlreichen Therapeutinnen erzählte.

Dass sie bei keiner der vielen Therapeutinnen mit dieser Missbrauchsgeschichte einen Behandlungserfolg erzielen konnte, liegt für Gerlich auf der Hand: "Wenn Sie dem Therapeuten was vom Pferd erzählen, kann er Ihnen nicht die Flugangst nehmen." Der Psychiater versteht nur eines nicht: Dass so viele Psychotherapeutinnen sich ihre Geschichten vom angeblich immer noch stattfindenden sadistischen Missbrauch anhörten - "und dann zur Tagesordnung übergingen": "Das ist kein gutes Bild von meinen Kollegen."

Ein Motiv für die Tötungen, falls die Angeklagte sie begangen haben sollte, sei schwer zu finden. Aber eines weiß Gerlich: In Zeiten, "in denen sich das Gesundheitswesen zu Tode" spare, und die Gesellschaft alte Menschen zum Sterben in Heime verfrachte, seien dort zu wenige und teils zu schlecht ausgebildete Pfleger. Für Gerlich steht fest: Michaela G. ist eine gestörte Persönlichkeit, aber voll schuldfähig. Erhöhtes Aggressionspotenzial sieht er bei ihr nicht. Nächstes Montag hat der Staatsanwalt das Wort.

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