Gefangenschaft Hinter dem Stacheldraht

"Being a prisoner of war is a grim business": Heinrich Schnitzler, der Vater des früheren Bonner Polizeipräsidenten, schrieb Tagebuch über seine sechs Monate als Kriegsgefangener der Amerikaner in Frankreich. Der damals 44-Jährige hatte damit Glück im Unglück. Denn aus russischer Gefangenschaft kehrten die letzten zehntausend Deutschen erst Ende 1955 zurück; zehn Jahre nach Kriegsende, krank an Körper und Seele.

Es ist ein Samstag, als der Krieg nach Vinnenberg kommt. Die Amerikaner stehen im nahen Warendorf, und der Führungsstab des "Luftgaukommandos VI Westfalen" bricht am 31. März 1945 seine Zelte in dem ehemaligen Benediktinerinnenkloster ab.

Hauptmann Heinrich Schnitzler hat Geburtstag: Er wird 44. Es ist der Tag, an dem sein Weg in die Kriegsgefangenschaft beginnt.

Auf verschlungenen Wegen versuchen die Soldaten der herannahenden US Army zu entgehen: von Milte nach Bückeburg, von Bückeburg nach Wiedensal, von Wiedensal nach Springe am Deister.

Im "Steinbruch Holzmühle" zwischen Eldagsen und Coppenbrügge ist gegen Mittag des 7. April die Flucht zu Ende: Hauptmann Schnitzler wird zum "Prisoner of war No. 3404933".

Bis zu seiner Entlassung fast ein halbes Jahr später hat er in einem Tagebuch seine Erlebnisse und Gedanken aufgeschrieben; Schnitzlers Sohn Dierk Henning (Bonnern noch als früherer Polizeipräsident ihrer Stadt bekannt) hat gemeinsam mit seinem Bruder diese Aufzeichnungen jetzt als Buch herausgegeben.

Vorwärts, Kameraden, wir müssen zurück: Von Eldagsen geht es zuerst nach Wülfingen, dann nach Elze, dann nach Brackwede und so weiter und so weiter. Krieg ist immer auch ein Verschiebebahnhof für Menschenmassen: Über viele Zwischenstationen schaffen die Amerikaner ihre Gefangenen erst nach Namur in Belgien, dann nach Voves (Frankreich), später nach Foucarville in der Normandie.

Persönlicher Besitz muss zurückbleiben; zum Ausgleich gibt es die Info-Broschüre Nummer 21-7 "If you should be captured, these are your rights" (Deine Rechte, falls du in Gefangenschaft gerätst). "Being a prisoner of war is a grim business" lautet der erste Satz: Kriegsgefangener zu sein, ist eine üble Sache.

Manches ist nicht anders als der Soldatenalltag zuvor. Aufstehen 6 Uhr, Zapfenstreich 22 Uhr. Das Ärgernis ist die Zeit dazwischen. "The monotony is deadly", sagt das Info-Heftchen; Schnitzler muss zustimmen. "Genau genommen ist alles Leerlauf und ich täusche mich nicht darüber, dass es die größte seelische Belastung ist, hier untätig herumzusitzen, während in der Heimat die größten und schwierigsten Probleme zu bewältigen sind."

Große und schwierige Probleme gibt es auch im Lager. Problem Nummer 1: das Essen. Mal gibt es reichhaltige amerikanische Dosenkost, dann ist alles prima. Manchmal aber stockt der Nachschub, dann fühlt so mancher den Hunger. So mancher einst stolze Offizier tauscht seine Orden gegen Tabak ein oder kratzt die letzten Reste aus weggeworfenen Essensbüchsen.

"Eifersüchtig beobachtet ein jeder, ob der andere nicht ein Gramm mehr bekommt", schreibt Schnitzler. "Die Brotstücke werden genau abgemessen, und mit schamlosen Augen wird das natürlich stets größere Stück des Kameraden betrachtet. Da erst lernt man die Menschen richtig kennen!"

Problem Nummer 2: die hygienischen Zustände. "Ich kam in einen Raum, da saßen drei Kameraden, die mit heißem Wasser versuchten, die Salbe von ihren Flechten im Bart und auf dem Kopf abzuwaschen.

Einer lag auf einer Pritsche und bekam einen Einlauf. Zwei wuschen sich eiternde Wunden ab, zwei saßen bereits auf verrosteten Eimern und nahmen ein Sitzbad. Das genügte meinen empfindsamen Nerven. Am liebsten hätte ich das Weite gesucht."

Hunderte Männer liegen auf Pritschen. Der Wind pfeift durch die Lücken der Zeltbahn. Privatsphäre gibt es keine, dafür um so mehr Zeit zum Nachdenken.

Über die Zukunft zum Beispiel: Schnitzler malt sich in menschlich anrührender Weise aus, wie Frau und Kinder seine erste Postkarte aus dem Lager erhalten, und wie er eines Tages ganz nach Hause zurückkehren werde. Oder, weniger heiter, über Gegenwart und Vergangenheit.

Schnitzlers Gedanken spiegeln die ganze Zerrissenheit der Überlebenden. Ist die Niederlage ein beklagenswerter Zusammenbruch, oder hat sie das deutsche Volk von einem Unrechtssystem befreit?

"Ich empfinde nicht nur keine Trauer, ich empfinde eine innere Erlösung von einem Zwang, der seit 1933 mein Herz und meinen Geist wie mit eisernen Reifen umgab." Und doch: "Was aber wird nun in Deutschland werden?"

Der Tagebuchautor blickt auf sein Leben zurück, liest viel, hadert mit dem Benehmen so manches Mitgefangenen ("Die Württemberger und Bayern sind am schlimmsten [...] Ich glaube, auf Dauer könnte ich in Süddeutschland nicht warm werden") und betreibt Gedankenspiele über die Verfassung des zukünftigen Deutschland.

Welche Rolle werden die Kirchen haben? Wie treibt man der Jugend die Nazi-Erziehung wieder aus? Aber auch die Kameraden machen sich Gedanken, und das Lager wird zur Volkshochschule für Soldaten.

Wer Ahnung von irgendetwas hat, hält den anderen Vorträge darüber: Englisch (natürlich), Philosophie, Jura, VWL. Zur Abwechslung und Zerstreuung gibt's Sport, Musik- und Theaterabende, sogar eine "Lagerzeitung".

Inzwischen wabern immer neue Gerüchte hin und her. Wir werden in ein anderes Lager verlegt! Getrennt oder gemeinsam? Wann? Wohin? Das ist der erste Schritt zur Entlassung, oder?

Welche Berufsgruppe darf als erstes nach Hause - Bahnbeamte, Postbeamte, Forstleute, Polizisten? Verwaltungsbeamte (wie Schnitzler einer ist)? Was geschieht mit den SS-Männern (Schnitzler ist keiner)? Was mit den Mitgliedern der NSDAP (das ist er als Verwaltungsbeamter leider durchaus)?

Antworten gibt es (meistens) keine. Und dennoch setzt sich die Menschen-Rangierlok irgendwann tatsächlich in Fahrt. Am 22. September ist das Entlassungslager bei Marburg erreicht. "Um 19 Uhr öffnen sich die Tore und ich bin frei."

Seine Aufzeichnungen tippte Schnitzler später mit der Schreibmaschine ab und ließ für Frau und Kinder drei in Leinen gebundene Bücher daraus machen.

Nach 1945 hat er über Krieg und Gefangenschaft kaum gesprochen, erinnert sich sein Sohn Dierk Henning: "Nachdem er alles aufgeschrieben hatte, war sein Standpunkt: “Das war es auch - und jetzt müssen wir schauen, wie es weitergeht.„ Er hat niemals irgendwie lamentiert, was ihm alles Furchtbares widerfahren sei oder ähnliches. Mit dem Ende des Tagebuchs hat er sich davon verabschiedet."

Heinrich Schnitzler starb am 21. März 1962. Sein Gefangenschaftstagebuch ist "ein wichtiges wie erstaunliches Dokument", sagt der Historiker Benjamin C. Hett von der City University New York in seinem Vorwort zur Buchausgabe.

"Seine Beobachtungen eröffnen uns einen wirklich einzigartigen Einblick in einen außergewöhnlichen Moment der Weltgeschichte." Auch uns Nachgeborenen, denen ihre Väter und Großväter vielleicht nicht so ausführlich von dieser Zeit erzählten. Wir können sie ja verstehen. Wer erzählt schon gern von solchem grim business.

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