Jakob-Muth-Preis für Grundschule in Eitorf

EITORF · Wie eine Schule im Rhein-Sieg-Kreis Vorbild für den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern wird.

 Vorbereitung für den Schultag: Alexis, Timon und Kai (von links) aus der Kleinen Igelklasse stecken die Wäscheklammern mit ihren Namen an Kärtchen, auf denen ihre Aufgaben für diesen Tag stehen.

Vorbereitung für den Schultag: Alexis, Timon und Kai (von links) aus der Kleinen Igelklasse stecken die Wäscheklammern mit ihren Namen an Kärtchen, auf denen ihre Aufgaben für diesen Tag stehen.

Foto: Ingo Eisner

Er ist einer der berühmtesten Sätze in der deutschen Filmgeschichte. "Da stelle mer uns mal janz dumm und fraren: Wat is eijentlich en Dampfmaschin?" Gesprochen hat ihn Erich Ponto als Chemielehrer Crey, genannt Schnauz, in der "Feuerzangenbowle". In dem Film von 1943 kam der Pädagoge mit seiner Erklärung nicht weit, die Schüler unterbrachen ihn immer wieder. Heutige Schüler kommen wahrscheinlich auch irgendwann auf die Dampfmaschine. Doch bei manch anderem Ausdruck lohnt es zuweilen auch heute, sich mal ganz dumm zu stellen. Etwa bei der Frage: "Was ist eigentlich Inklusion?"

Vor sechs Jahren haben die Vereinten Nationen eine Konvention beschlossen, nach der sich die Staaten verpflichten, dass der gemeinsame Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung der Normalfall sein soll. Für die Lehrer und Kinder der Gemeinschaftsgrundschule (GGS) Brückenstraße in Eitorf im Rhein-Sieg-Kreis ist das aber nicht die ganze Antwort auf die Frage, was Inklusion bedeutet.

"Hier sind alle Menschen erst einmal Menschen und nichts anderes", haben sie auf ein großes Plakat geschrieben, das sie wenige Schritte vom Eingang der Schule aufgehängt haben. Und konkret: "... wir sind verschieden groß und schwer, kommen aus verschiedenen Ländern, haben verschiedene Lieblingsessen, wir lernen schneller und langsamer ..." Dass all dies nicht nur leere Worte sind, haben der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, die Unesco-Kommission, die Sinn-Stiftung und die Bertelsmann Stiftung der Schule Donnerstag mit der Verleihung des Jakob-Muth-Preises bescheinigt.

Unterricht heißt hier Lernzeit

Was macht die Schule so besonders? Im ersten Stock am Ende des Gangs unterrichtet Renate Franke die Erstklässler der "Kleinen Igelklasse". Wobei Unterricht eigentlich der falsche Ausdruck ist. "Wir sprechen lieber von Lernzeit", sagt Rektor Boris Kocéa. Zu Beginn der täglichen Lernzeit also versammelt die Lehrerin die meisten Kinder auf einem bunten Teppich. "Was ist heute mein Ziel?", fragt sie in die Runde. Emily sagt, sie wolle Dinge ordnen und zählen. Alexis will mitmachen. Nach der Runde legen beide gleich los.

Der Junge baut einen Zaun aus sechs Elementen, holt aus einer Kiste mit Hunderten kleiner Spieltiere fünf Schweine heraus, stellt sie in den Pferch und schreibt in Großbuchstaben in sein Lerntagebuch: 5 Schweine. Derweil hat Emily aus der Kiste sechs Löwen herausgesucht. Alexis ergänzt: 6 Löwen. Dann sucht das Mädchen Nilpferde, Robben und Eisbären, sortiert diese und dokumentiert das.

Felix war bei der Runde in der Ecke nicht dabei. "Der wusste vorher schon, was er machen wollte", sagt die Lehrerin. In seinem "Lies-mal-Heft" betrachtet er kleine Texte, kreuzt Antworten auf Fragen dazu an, malt Bilder hinzu und schreibt kurze Sätze auf. "Da kann man ganz viel lernen", sagt der Sechsjährige, als der Reporter fragt, was er an dem Heft so gut findet.

"Wir versuchen, dass die Kinder jeden Tag ein bisschen schlauer werden"

Und was hat das mit Inklusion zu tun? "Von außen betrachtet merken sie gar nicht, wer von den Kindern hier einen besonderen Förderbedarf hat", sagt Lehrerin Franke, die seit 32 Jahren Kinder unterrichtet. Sie zeigt auf einen Jungen. "Der hat es sehr schwer", sagt sie, "aber er arbeitet auf seinem Niveau und kommt auch weiter. Jeder ist eben anders. Inklusion heißt für uns, jeden so zu schätzen, wie er ist." Und Schulleiter Kocéa setzt hinzu: "Hier wird keiner mit dem Stempel besonderer Förderbedarf versehen. Wir versuchen, dass die Kinder jeden Tag ein bisschen schlauer werden, aber nicht alle an einem ganz bestimmten Standard orientiert sind."

Weiter hinten sitzt Tecan und spielt mit seiner Brotdose. Er hatte sich die Aufgabe gestellt, Wörter zu schreiben. Unter ein Bild mit einer Wippe hat er nur die Buchstaben ST gesetzt. "Damit bin ich nicht einverstanden", sagt ihm die Lehrerin, schickt ihn wieder an seinen Platz und fordert ihn auf, es besser zu machen. Franke deutet auf zwei andere Kinder, die auf dem Boden eine sogenannte Tausenderkette legen. "Die suchen die Zahl 375", sagt sie. Normalerweise arbeiten die Erstklässler nur im Zahlenraum bis 20. "Wer höher begabt ist, kann aber auch schon weiter kommen." Das Motto hier: die Starken stärken.

Und Konflikte? Beim Gang über den Flur kommen zwei Jungs aus der Löwenklasse entgegen, Lehrerin Anna Antoniak hinterher. "Wir haben keinen Bock auf das Theaterstück", rufen sie, als die Lehrerin sie zur Rede stellt. Im Forum im Erdgeschoss übt ihre Klasse gerade mit anderen "Eine Wintergeschichte vom Schneeflöckchen" ein. Antoniak sagt den Jungs, dass es nicht geht, einfach wegzulaufen und dass es eine gemeinsame Aktion der Klassen ist. Die Kinder zeigen sich einsichtig. Wenig später sitzen sie wieder unter ihren Klassenkameraden.

Dass die Schule auch mit Kritik leben muss, das verschweigt Rektor Kocéa nicht. "Eltern sagen uns immer wieder: Die Kinder spielen zu viel und lernen zu wenig." Aus deren Sicht sei das ja auch verständlich. "Als wir zur Schule gingen, haben wir ja auch Zahlen-Päckchen gerechnet", sagt der 42-Jährige, der von einem großen Aufklärungsbedarf spricht. Es sei eben nicht so einfach, die Eltern zu überzeugen. Auch speziell, was die Inklusion angeht. Ob sie für ihr Kind einen gemeinsamen Unterricht wollen oder jenen in der Förderschule, können die Eltern entscheiden. Kocéa verhehlt aber auch seinen Standpunkt nicht: "Wenn es möglich ist, sollte man es in der Regelschule versuchen, aber wir können das den Eltern nicht vorschreiben." Mit dem Jakob-Muth-Preis im Rücken wird es den Lehrern womöglich eher gelingen, Eltern zu überzeugen.

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