Prozess gegen Reker-Attentäter Ein Täter in der Opferrolle

Köln · Zum Auftakt schildert Frank S. vor dem Düsseldorfer Oberlandesgericht seine desolate Kindheit und Jugend in Bonn. Ein Rechtsradikaler will er aber nicht gewesen sein. Sein Verteidiger warnt vor einem politischen Prozess.

Der Angeklagte wirkt unauffällig, ein Allerweltstyp. Halbglatze, die Resthaare raspelkurz. Kinnbart. Blaukariertes Hemd, lose über der Jeans getragen. Schlank, schwarze Sportschuhe. Bei einer Begegnung auf der Straße würde man Frank S. schwerlich wahrnehmen. Er ähnelt dem Versicherungsabteilungsleiter Bernd Stromberg aus der gleichnamigen TV-Serie. Nun sitzt der 44-Jährige, der seine Kindheit und Jugend in Bonn verbrachte, zwischen seinen zwei Verteidigern. Die Hände liegen meist ineinander gefaltet auf dem Tisch.

Mit diesen Händen nimmt Frank S. am 17. Oktober des vergangenen Jahres von der damaligen Kölner Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker auf einer ihrer letzten Veranstaltungen vor der Wahl auf einem Wochenmarkt im Kölner Stadtteil Braunsfeld eine Rose entgegen. Dann sticht er ihr „mit Wucht von vorn“ mit einem Kampfmesser in den Hals. Die Klinge dringt bis zur Wirbelsäule der zierlichen Frau ein und verletzt ihre Luftröhre an zwei Stellen. Anschließend sticht er mit dem Messer, Typ „Bowie Rambo 3“, und einem klappbaren Butterflymesser, wie es Kleinkriminelle benutzen, „wahllos“ auf umstehende Unbeteiligte ein und verletzt fünf weitere Menschen zum Teil schwer. So steht es in der Anklageschrift, die Lars Otte, Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof, vorträgt. Der Vorwurf gegen Frank S.: versuchter Mord und gefährliche Körperverletzung. Die Behörde wirft ihm niedere Beweggründe und Heimtücke vor. Er habe ein Zeichen setzen wollen gegen die von Reker vertretene Flüchtlingspolitik.

„Theoretisch“, sagt Otte später am Rande des Verfahrens, käme bei einem Schuldspruch bei diesen Vorwürfen sogar eine lebenslängliche Strafe in Frage. Bei Berücksichtigung strafmindernder Umstände wären bis zu 15 Jahren Haft möglich.

Diese Vorwürfe will der Verteidiger von Frank S., der Kölner Anwalt Christof Miseré, so nicht stehen lassen, vor allem den des versuchten Mordes nicht. Schließlich, erklärt Miseré zur Eröffnung, wäre es für S. „ein Leichtes gewesen“, Henriette Reker zu ermorden, wenn er gewollt hätte. S. hätte nur statt einmal mehrfach zustechen müssen. Unter diesem Umständen sei „das Annehmen einer Tötungsabsicht nahezu fernliegend“ und allenfalls der Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung angemessen, erklärt Miseré.

Und noch eine weitere Sache will der Verteidiger loswerden. Nämlich die Sorge, dass sein Mandant schärfer bestraft werden könnte, weil sein Opfer heute ein hohes politisches Amt bekleidet. Miseré spricht von einer „politischen Ausrichtung des Verfahrens“, von einem „politischen Prozess“.

Diesem Verdacht will Barbara Havliza, Vorsitzende Richterin am Düsseldorfer Oberlandesgericht, von Beginn an den Stachel ziehen. „Dieser Senat führt keinen politischen Prozess“, stellt die Juristin klar, darüber brauche sich Verteidiger Miseré „keine Gedanken zu machen“. Es werde ein „Prozess wie jeder andere“, betont Havliza. Ein weiteres Mal ziehen sich Frank S.' Verteidiger an diesem Tag eine scharfe Rüge zu, weil sie nach der Mittagspause 20 Minuten zu spät wieder im Gerichtssaal erscheinen.

Havliza gilt als erfahrene, besonnene Verhandlungsführerin. Sie leitet den sogenannten Staatsschutzsenat beim Oberlandesgericht Düsseldorf. Im ausgelagerten Hochsicherheitstrakt des Gerichts mussten sich schon die Mitglieder der „Sauerland-Gruppe“ und die Al-Kaida-Terroristen der „Düsseldorfer Zelle“ verantworten. Der von hohen Mauern und Stacheldraht umgebene Komplex zählt zu den sichersten Gerichtsgebäuden.

Die strikten Vorkehrungen erweisen sich an diesem Tag jedoch als überflüssig. Frank S. hat keine Unterstützer aus der rechten Szene mobilisiert. Lediglich ein Großaufgebot an Medienvertretern beobachtet, wie Richterin Havliza Frank S. einer intensiven, zähen Befragung über seine persönlichen Hintergründe unterzieht.

Folgt man den Selbstauskünften von S., wuchs er in desolaten Familienverhältnissen in Bonn auf. Die leiblichen Eltern gaben ihn im Alter zwischen vier und sechs in eine Pflegefamilie. Wann genau, daran kann sich der 44-Jährige nicht erinnern. Weder zu den Eltern noch zu den drei leiblichen Geschwistern hatte er danach je wieder Kontakt. In der Pflegefamilie habe ein Klima von Kälte und Gewalt geherrscht mit „mittelalterlichen Erziehungsmethoden“. Trotzdem schaffte S. auf der Gesamtschule Bonn-Beuel einen Hauptschulabschluss.

Bei einem Bonner Betrieb absolvierte S. dann auch eine Lehre als Maler und Lackierer. Als er 18 wurde, setzte ihn die Pflegefamilie vor die Tür, weil mit der Volljährigkeit die Zahlungen vom Jugendamt weggefallen seien.

Die Lehre beendete S. allerdings nicht. Vom Januar 1998 bis zum Juni des Jahres 2000 saß er statt dessen mehrere Haftstrafen in der JVA Rheinbach, in Remscheid und im offenen Vollzug in Euskirchen ab. Immer wieder geriet er in Schlägereien: Er sei als Mitglied der „Berserker Bonn“, die er als eine Art Bürgerwehr bezeichnet, in der Stadt als Rechter bekannt gewesen. Die Feinde: Ausländer und die linksradikale „Antifa“. Doch bei den Schlägereien sei er Opfer gewesen, nicht Täter. „In Bonn ist man ständig gehetzt worden, entweder von der Antifa oder von Ausländern.“ Im Stadtteil Tannenbusch, wo er in Bonn zuletzt wohnte, habe ihn „die Realität eingeholt“: „In Tannenbusch war ich der Ausländer.“

Sich selbst beschreibt Frank S. als „immer schon politisch interessiert“, als „wertkonservativen Rebellen“. Wert legt er auf die Feststellung: „Ich war nie ein Nazi.“ Kontakte zu Mitgliedern der später verbotenen rechtsradikalen Gruppierung FAP habe es gegeben, aber: „Die waren mir zu rückwärtsgewandt.“

Zur Tat selbst sagt Frank S. an diesem Tag nichts. Dass er sich aber später erklären will, über den Angriff auf Reker und die Motive reden will, hat er im Vorfeld deutlich gemacht. Die Kölner Oberbürgermeisterin ist an diesem Tag nicht im Gerichtssaal. Sie hält sich über ihren Anwalt auf dem Laufenden. Die Zeugin Henriette Reker wird am 29. April um zehn Uhr für ihre Aussage aufgerufen.

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