Familie aus Viersen berichtet So leben gehörlose Eltern mit hörenden Kindern

Viersen · Gehörlosigkeit ist vererbbar, doch das hörgeschädigte Ehepaar Kliver aus Viersen hat drei hörende Kinder zur Welt gebracht. So läuft der Alltag in der Familie ab.

 Familie Kliver: Vater Torsten, Mutter Annette, die Söhne Niklas (16) und Lorenz (13) sowie Tochter Fiona (10).

Familie Kliver: Vater Torsten, Mutter Annette, die Söhne Niklas (16) und Lorenz (13) sowie Tochter Fiona (10).

Foto: Knappe, Joerg (jkn)

Manche Eltern wollen kein Kind mit Behinderung. Blutuntersuchungen während der Schwangerschaft, die Klarheit über den Zustand des Kindes verschaffen, sind ein Trend. Bei Familie Kliver ist das anders. Bevor Mutter Annette 2003 ihr erstes Kind auf die Welt brachte, hatte sie diese Hoffnung: „Ich hätte mich gefreut, wenn Niklas gehörlos gewesen wäre. Das klingt vielleicht hart, aber dann wären wir drei gleich gewesen.“

Niklas ist heute 16 Jahre alt, sein Gehör ist voll intakt – anders als das seiner Eltern. Vater Torsten ist seit dem vierten Jahr stark schwerhörig. Er kann zwar mit Hilfe eines Hörgeräts auch gesprochene Worte verstehen und reden, aber nur im kleinen Personenkreis. Mutter Annette ist seit Geburt komplett gehörlos. „Ich weiß nicht, was Hören ist“, sagt die 44-Jährige mittels einer Gebärdensprach-Dolmetscherin.

Vom Muttersein hat sie das nie abgehalten. Sohn Niklas hat zwei jüngere Geschwister: Lorenz (13) und Fiona (10). Mit vier Katzen lebt die Familie in einem kleinen Einfamilienhaus am Stadtrand von Viersen. Gemeinsam gehen sie ins Kino, in Filme „mit möglichst wenig Dialog und viel Handlung“, wie Vater Torsten sagt. Das tägliche Miteinander erklärt der 45-Jährige so: „Wir streiten, vertragen und lieben uns. Wir sind eine ganz normale Familie.“ Ganz normal zu sein, das nehmen Gehörlose für sich in Anspruch.

Seit 2002 ist Gebärdensprache in Deutschland offiziell anerkannt

„Sich über die Gebärdensprache zu verständigen, ist für viele Betroffene keine Behinderung, sondern Bestandteil einer kulturellen Minderheit“, sagt Christina Dick vom Caritasverband Düsseldorf. Sie berät Gehörlose wie Hörende im Umgang miteinander. „Das Bedürfnis nach Normalität hängt sicherlich damit zusammen, dass Generationen von Gehörlosen die Gebärdensprache nicht benutzten durften. Da herrscht heute ein größeres Selbstbewusstsein.“ Erst 2002 wurde die auf Gestik und Mimik basierende Sprache in Deutschland offiziell anerkannt. Dabei nehmen Gehörlose voll am gesellschaftlichen Leben teil. Sie fahren Auto, gehen einkaufen und sind berufstätig.

Annette Kliver arbeitet als Verwaltungsfachkraft im Grevenbroicher Ordnungsamt. „Am Anfang hat man mir überhaupt nichts zugetraut. Dass ich einen Führerschein habe und kommunizieren kann, hat viele Kollegen verwundert“, sagt Annette. Ihr Mann hat die gleiche Ausbildung, kümmert sich aber seit vielen Jahren schon um Haushalt und Familie.

Dass die drei jungen Klivers ein funktionierendes Gehör haben, ist nicht ungewöhnlich. Nur jedes zehnte Kind gehörloser Eltern kommt ohne Hörsinn zur Welt. Für das Viersener Ehepaar spielte das ohnehin keine große Rolle. Es entspricht ihrer Einstellung zum eigenen Handicap, wenn Torsten sagt: „Die Hauptsache war und ist, dass die Kinder gesund sind. Egal, ob hörend oder nicht.“ Annette ergänzt: „Das Herz ist wichtiger als die Ohren“. Seit 1993 sind die beiden ein Paar, im Oktober 1997 folgt die Hochzeit, später die Kinder.

„Bei der ersten Geburt gab es einige Missverständnisse mit den Ärzten. Es gab keinen Dolmetscher, man konnte uns nicht erklären, wie es unserem Sohn geht“, sagt Annette. Besser lief es später im Kindergarten: „Dort haben sie den anderen Kindern erklärt, was Gehörlosigkeit ist und wie wir miteinander sprechen. Das hat den Kindern unheimlich geholfen.“ Heute gehen Niklas, Lorenz und Fiona allesamt zur Schule. Dort brauchte es immer mal wieder Vermittlungsversuche, um gegenseitiges Verständnis zu entw ickeln. „Eine Lehrerin hatte Lorenz das Handy abgenommen und wollte es mehrere Tage behalten. Aber das Handy ist ein wichtiger Gegenstand für unsere Kommunikation, das geht nicht“, sagt Annette. Telefonieren kann sie nicht, Nachrichten sind die einzige Kontaktmöglichkeit mit ihrem Sohn, wenn sie nicht im selben Raum sind.

Familientherapeutin Christina Dick kennt solche Situationen. „Für viele gehörlose Eltern ist weniger der Austausch mit den Kindern als vielmehr der mit anderen Eltern oder Lehrern ein Problem.“ Denn während die Kinder neben der Laut- auch die Gebärdensprache beherrschen, ist letztere in der Gesellschaft kaum verbreitet. Für öffentliche Veranstaltungen, Elternabende oder Arzttermine braucht es deshalb meist die Begleitung eines Dolmetschers. „Gehörlosigkeit ist eine unsichtbare Einschränkung, die Barrierefreiheit noch weniger verbreitet als bei anderen Behinderungen“, sagt Dick. So klagen Gehörlose über fehlende Inf ormationstafeln an Bus- und Bahnhaltestellen und viele andere Barrieren im Alltag. Vor allem aber fehlt es an Dolmetschern. Der Berufsverband der Gebärdensprachdolmetscher zählt für Düsseldorf lediglich zwölf Anbieter für rund 600 Gehörlose und etwa 115.000 Schwerhörige. Entsprechend lange müssen Betroffene manchmal auf eine übersetzende Begleitung warten.

Und für private Anlässe wie Schulfeste oder Kindergeburtstage werden die Kosten nicht übernommen. „Es gibt einige Fälle, in denen die Kinder notgedrungen als Übersetzer für ihre Eltern fungieren“, sagt Christina Dick. „Dadurch werden die Kinder aber einer enormen Verantwortung ausgesetzt und kommen mit Themen in Kontakt, mit denen sie eigentlich nichts zu tun haben sollen.“ Bei Arzt- oder Amtsterminen beispielsweise. Das Ehepaar Kliver versucht, solche Situationen so gut es geht zu vermeiden. „Manchmal helfen wir Mama im Supermarkt, wenn man sie nicht versteht oder Fragen hat“, sagt Sohn Niklas, und sein Bruder Lorenz ergänzt: „Aber andere Eltern bitten ihre Kinder ja auch mal um Hilfe.“ Vor allem bei schulischen Themen wollen die Eltern alleine oder mit Übersetzer kommunizieren. „Wenn mein Sohn am Elternsprechtag zwischen seiner Lehrerin und uns übersetzen müsste, wäre das wahrscheinlich nicht hilfreich“, sagt Torsten und schmunzelt.

Bis zur Pubertät haben die Eltern ihre drei Kinder mittlerweile begleitet. „Der größte Unterschied für uns ist, dass sich die Sprache der Kinder unheimlich weiterentwickelt hat“, sagt Torsten. Immer häufiger müssen sich die Eltern Wörter erklären lassen, für die es in der Gebärdensprache noch keinen Ausdruck gibt.

Auch beim gemeinsamen Fernsehen kommen die Eltern bisweilen an ihre Grenzen. „Im deutschen Fernsehen wird kaum eine Sendung oder ein Film mit Gebärdensprache gezeigt“, sagt Torsten. „Und wenn es Untertitel gibt, sind die häufig zu langsam oder ganz schön fehlerhaft“, sagt Sohn Niklas. Die Lösung bieten verschiedene Streaming-Dienste. Torsten sagt: „Das ist ein echter Fortschritt, damit kommen wir zurecht“. Wer die Familie in Viersen besucht, bekommt den Eindruck eines organisierten Haushalts, in dem die Eltern den Ton angeben – auch ohne laute Worte. Ob sie stolz auf ihre Eltern seien, lautet die letzte Frage an die Kinder. „Es ist schon beeindruckend, wie die das alles hinbekommen. Also ja“, antwortet Niklas. Und Mutter Annette strahlt.

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