"Mein Grundvertrauen war erschüttert" Kölnerin erzählt, wie sie Vergewaltigung verarbeitet

Köln · Immer mehr Frauen zeigen Sexualstraftaten an. Eine Kölnerin ist den Weg gegangen und erzählt, wie es ihr heute geht.

Es waren vielleicht 300 Meter bis zu ihrem Zuhause im Kölner Stadtteil Lindenthal, als Sarah W. (Name geändert) in einer Mainacht vor drei Jahren von hinten gepackt wurde. "Im ersten Moment dachte ich, es sei ein Freund", sagt die 24-Jährige. Doch dann sah sie das Messer vor ihrem Bauch. Der Täter nahm sie in den Schwitzkasten und zog sie vom Uni-Campus hinter das Philosophikum.

"Erst wollte er Geld, ich hatte aber nur 20 Euro und hab ihm angeboten, am Automaten mehr zu holen." Die meiste Angst habe sie vor dem Messer gehabt. Vom Täter sah sie die ganze Zeit nur eine Hand, er hielt sie vor sich fest, als er plötzlich verlangte, dass sie ihre Hose auszieht. "Ich hab gesagt: Mach, was du willst, aber schmeiß das Messer weg", erzählt sie. Der Täter legte das Messer erst auf dem Boden ab und warf es dann hinter sich. Sarah W. nutzte den Augenblick und lief los, doch der Mann holte sie ein. "Ich dachte, jetzt ist alles vorbei." In Todesangst ließ sie die Vergewaltigung über sich ergehen und dachte immerzu an das Messer. "Ich hab mich gefragt: Was passiert hier gleich? Was macht er, wenn er fertig ist?"

Anzeigeverhalten hat sich verändert

Sarah W. gelang schließlich die Flucht, sie rannte nach Hause. Eine Überwachungskamera an der Uni zeichnete die dramatische Szene auf. "Die Polizei hat mir nie das Gefühl gegeben, mir nicht zu glauben, aber ich war trotzdem erleichtert, als sie mir erzählt haben, dass sie mich auf den Kameraaufnahmen gesehen haben", sagt Sarah W.

Nach der Kölner Silvesternacht und durch die "Me too"-Debatte hat sich das Anzeigeverhalten verändert, nach einer Sexualstraftat wagen mehr Frauen den Schritt, zur Polizei zu gehen. "Aber das Ermittlungsverfahren und der Prozess werden von vielen als sehr belastend empfunden", sagt Diplom-Sozialpädagogin Irmgard Kopetzky. "Man muss einigermaßen stabil sein, um das durchzustehen." Kopetzky berät beim Kölner Verein "Frauen gegen Gewalt" vergewaltigte Frauen. Sie und ihre Kolleginnen begleiten Frauen auch zur Polizei oder zum Gericht. Kopetzky weiß, dass es nicht immer so schnell zum Prozess kommt wie im Fall von Sarah W. Und sie kennt das Unverständnis der Opfer, wenn das Ermittlungsverfahren eingestellt oder ein Beschuldigter freigesprochen wird.

Angeklagter schwieg im Prozess

Ende 2016 verurteilte das Kölner Landgericht einen BWL-Studenten für die Vergewaltigung von Sarah W. Der 24-Jährige hatte den ganzen Prozess über geschwiegen. Doch Ermittler hatten seine DNA am Tatort auf dem Uni-Campus sichern können, er hatte Fingerabdrücke auf der Kondomverpackung und an der Jacke von Sarah W. hinterlassen. Eine Auswertung seines Handys zeigte, dass er sich nach der Vergewaltigung im Netz darüber informiert hatte, wie sich Spuren der Tat am besten verwischen lassen.

Wegen besonders schwerer Vergewaltigung und besonders schwerer räuberischer Erpressung wurde er zu zehneinhalb Jahren Haft verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte zwölf Jahre gefordert.

Sarah W. ist froh darüber, wie es gelaufen ist. Auch wenn die Aussage vor Gericht sie gequält hat - wenn der Täter gestanden hätte, hätte das Gericht vermutlich auf ihre Vernehmung verzichtet. "Es war schon unangenehm, die ganzen Details erzählen zu müssen", sagt sie. "Am schlimmsten war für mich, dass ich ihn einmal anschauen und sagen sollte, ob ich ihn wiedererkenne - das hab ich aber nicht. Ich hatte sein Gesicht ja nie gesehen." Auch die Frage zur Größe des Messers konnte sie nicht beantworten. "Das hatte ich verdrängt."

Spuren werden anonymisiert gelagert

Kopetzky und ihre Kolleginnen, die alle ehrenamtlich arbeiten, versuchen, den Frauen klar zu machen, dass es nicht an ihnen liegt, wenn ein Beschuldigter freigesprochen wird. "Es gibt oft keine Zeugen bei Sexualstraftaten", sagt sie.

Kopetzky: "Es ist deshalb so wichtig, dass die Frauen so bald wie möglich nach der Tat zum Arzt gehen und Spuren dokumentieren lassen." In Köln geht das seit 2011 anonym. Ist eine Frau erst einmal nicht in der Lage zu entscheiden, ob sie den Täter anzeigen will oder nicht, kann sie in eine von fünf Kölner Kliniken gehen und sich untersuchen lassen. Die Ärzte dokumentieren Verletzungen und nehmen Blut- oder Urinproben, wenn der Verdacht besteht, dass der Täter dem Opfer K.o.-Tropfen gegeben hat. Die Spuren werden anonymisiert im Institut für Rechtsmedizin der Uniklinik gelagert und zehn Jahre aufbewahrt. Mit Hilfe einer Chiffrenummer können sie bei einer späteren Anzeige zugeordnet werden und im Prozess wichtige Beweise sein. Eine Vergewaltigung verjährt erst nach 20 Jahren.

"Mein Grundvertrauen war erschüttert"

Dass eine Frau aus dem Nichts überfallen wird wie Sarah W. ist bei Sexualdelikten eher selten. "Die meisten Frauen haben die Täter gekannt, manchmal sind es die Partner oder jemand aus dem Freundes- oder Kollegenkreis", sagt Kopetzky. "Je näher der Täter einem ist, desto schwieriger wird es, ihn anzuzeigen." Sie hat viele Frauen erlebt, die erst Jahre nach der Tat Hilfe suchten, weil sie es nicht schafften, allein damit klarzukommen. "Sie bekommen Schlafstörungen, Panikattacken, werden krank und merken, dass es nicht gelingt, alles zu verdrängen und die Fassade aufrecht zu erhalten."

Sarah W. hat von Anfang an dagegen angekämpft, dass die Tat ihr Leben zu sehr beeinflusst. Gleich am nächsten Tag ist sie mit ihrem Freund und ihren Eltern zurück zum Campus, weil sie keine Angst vor dem Ort haben wollte. "Mein Grundvertrauen war erschüttert, das kann ich sagen, aber sobald ich in meiner Wohnung war, hab ich mich sicher gefühlt." Die weltoffene Studentin fand besonders schlimm, dass sie auf einmal zusammenzuckte, wenn ihr ein dunkelhäutiger Mann begegnete, weil auch der Täter dunkelhäutig ist. "Das fand ich wirklich schlimm, das wollte ich nicht", sagt sie.

Verarbeitung der Tat brauchte Zeit

Doch die Verarbeitung brauchte Zeit. Sarah W. wollte so schnell wie möglich zurück in ihren Alltag und wurde dann doch ausgebremst. "Zwei oder drei Wochen nach der Tat hatte ich einen Zusammenbruch an der Uni. Ich musste weinen, konnte tagelang nichts essen, musste mich übergeben", sagt sie. In einer Beratung lernte sie, dass sie sich Zeit zur Verarbeitung geben muss, sie ließ Klausuren ausfallen und versuchte, sich einen schönen Sommer zu machen. Sie ging für ein Semester ins Ausland, reiste zum Prozess im Herbst an.

In einer Selbsthilfegruppe lernte sie, dass sie nicht die Einzige ist, dass sie normal reagiert. "Ich weiß noch, dass ich vor dem Prozess Angst hatte, dass er mich angrinst, verhöhnt", sagt sie. Doch im Zeugenstand spürte sie, dass man ihr zuhört, dass sie im Recht ist. Der Täter habe die ganze Zeit vor sich auf den Tisch gestarrt. "Das war ein gutes Gefühl. Ich wusste: Jetzt rede ich, und du wirst für das bestraft, was du mir angetan hast."

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