Kampf gegen Überschwemmungen und Malaria Vor 200 Jahren bekam der Rhein sein neues Bett

Karlsruhe/Bonn · Einst war der Rhein wild und breit, er verursachte Überschwemmungen und begünstigte Malaria. Dann kam sein Bändiger: Johann Gottfried Tulla. Vor 200 Jahren begann er das wohl größte Bauvorhaben in der deutschen Geschichte.

 Das Gemälde von Peter Birmann zeigt den Rhein in seiner ursprünglichen Form mit Blick vom Isteinerklotz rheinaufwärts gegen Basel (um das Jahr 1819).

Das Gemälde von Peter Birmann zeigt den Rhein in seiner ursprünglichen Form mit Blick vom Isteinerklotz rheinaufwärts gegen Basel (um das Jahr 1819).

Foto: Birmann/Kunstmuseum Basel/Kunstmuseum Basel- Birmann-Samml/dpa

Der Rhein ist heute Europas wichtigste Binnenwasserstraße. Dafür fließt er in einem am Reißbrett entworfenen Bett, eingepfercht zwischen Beton und aufgestapelten Steinen. Vor zwei Jahrhunderten hingegen erstreckte sich der Strom in einem teils unübersehbaren Netz von Armen, Verbindungsgräben, toten Buchten und Sumpflöchern, zwischen denen Dschungel wucherte. Die Auenwälder waren Schlupfwinkel für Insekten, Frösche und Vögel, im Wasser lebten 45 Fischarten - mit dem Lachs als König.

Das änderte sich ab 1817. Damals begann mit der Begradigung des Rheins das größte Bauvorhaben, das jemals in Deutschland in Angriff genommen wurde. Diese Einschätzung stammt von dem Historiker David Blackbourn, der in seinem Werk „Die Eroberung der Natur“ beschreibt, wie der Fluss zwischen Basel und Worms um fast ein Viertel seiner Länge gekürzt wurde, von 345 auf 273 Kilometer. 2200 Inseln wurden beseitigt, der Fluss bis Basel schiffbar gemacht.

Der Bändiger des wilden Rheins war der badische Wasserbauingenieur Johann Gottfried Tulla. „Kein Strom oder Fluss, also auch nicht der Rhein, hat mehr als ein Flußbett nötig“, erklärte er. In einer Denkschrift legte er dar, wie er sich den Oberrhein vorstellte: Eine gleichförmige Breite zwischen 200 bis 250 Metern sollte er haben - bis dahin erstreckte sich der Fluss in der Mäanderzone auf bis zu 40 Kilometern. Es ging auch um die Entwässerung von Sumpfland und die Bewahrung der Anrainerstädte vor Hochwasser.

Tatsächlich waren die häufigen Überschwemmungen die größte Motivation Tullas. Die einstmals bedeutende Handelsstadt Neuenburg, die zum Ende des 15. Jahrhunderts samt Hauptschiff ihrer Kathedrale in den Fluss gespült wurde, ist nur eines von vielen Beispielen. Ständig mussten Dörfer verlegt werden, weil sie unter Wasser standen. Der Rhein änderte seinen Lauf jedes Jahr, manchmal zwei oder dreimal - was sowohl Grenzziehungen als auch Brücken unmöglich machte.

Auch vor Tulla errichteten die Bewohner des Oberrheins schon Deiche und Gräben hier, befestigten Ufer dort. Doch wurde eine Stelle vor dem Fluss geschützt, erhöhte das fast immer die Bedrohung an einer anderen. „Vor Tulla gab es niemanden, der so einen langen Abschnitt in den Blick genommen hat. Er war der erste, der über die eigenen Grenzen hinaus gedacht hat“, sagt die Historikerin Nicole Zerrath, die eine Tulla-Biografie für die Stadt Karlsruhe verfasst.

"Nicht das, was Tulla geplant hatte"

Grundlage für Tullas Planungen waren die politischen Veränderungen. Erst als es nicht mehr unzählige Duodezfürsten entlang des Rheins gab, sondern Baden und Bayern, das damals die Pfalz besaß, über den Oberrhein bestimmten, konnte das Mammutwerk beginnen. „1817 war der Startschuss, weil in diesem Jahr der Vertrag für die ersten fünf Durchstiche geschlossen wurde“, sagt Iris Baumgärtner, Leiterin des Riedmuseums in Rastatt-Ottersdorf, das eine Dauerausstellung zu dem Thema zeigt. Es dauerte aber noch bis 1870, bis die Ideen des jungen Ingenieurs Tulla verwirklicht waren.

Auch danach gingen die Bauarbeiten weiter - bis der Rhein ein vollkanalisierter kommerzieller Wasserweg war, mit Staustufen, gigantischen Industriehäfen und Wasserkraftwerken. Durch die Rheinbegradigung sei ein ganzer Kulturraum verändert worden, erklärt Frank Seidel, der am Karlsruher Institut für Technologie die Abteilung Wasserbau und Gewässerentwicklung leitet. Er betont auch: „Die heutige Situation mit den Staustufen ist nicht das, was Tulla geplant hatte.“ Tulla hatte zum Beispiel nie vor, die Nebenarme ganz vom Hauptstrom abzukoppeln.

Bald waren die Auenwälder, Sümpfe und Feuchtwiesen am Rhein in landwirtschaftlich nutzbare Fläche umgewandelt. Damit verschwanden nicht nur die Brutstätten für Malaria, Typhus und Ruhr, die damals ein gewaltiges Problem darstellten. Weg waren auch die Laichplätze für Lachs, Stör, Alse und Neunauge. „Die Fische, aber auch die Libellen, Amphibien, Pflanzen haben in dem ganzen Szenarium der Rheinbegradigung nie eine Rolle gespielt“, sagt Lothar Kroll, der beim rheinland-pfälzischen Landesamt für Umwelt das Referat Gewässerökologie und Fischerei leitet. Der Fluss sei nur als Bedrohung wahrgenommen worden.

Fatale Folgen für Bäume und Pflanzen im Rheingraben

„Tulla hat etwas gemacht, das heute ein Umweltfrevel hoch drei wäre“, meint Kroll. Was vor 200 Jahren dem Denken der Zeit entsprochen habe, werde nun als Umweltverschmutzung betrachtet. „Heute werfen wir genau das den Menschen in Amazonien, im Kongo und im Mekong-Delta vor. Wir sagen ihnen: Das kann man nicht so machen, das macht die natürliche Flusslandschaft kaputt.“

Nach Tullas „Rektifikation“ grub sich der Rhein sein Bett tiefer und tiefer, teilweise bis zu sieben Meter. Damit sank auch der Grundwasserspiegel - mit fatalen Folgen für Bäume und Pflanzen im Rheingraben. Teilweise bildeten sich fast steppenartige Landschaften heraus. „Bei großen Modernisierungsprojekten wird viel gewonnen, aber es geht auch viel verloren“, sagt Eike-Christian Heine von der TU Braunschweig, der sich in seiner Dissertation mit Kanalbauprojekten des 19. Jahrhunderts beschäftigt hat.

Durch den Umbau des Oberrheins stieg außerdem die Gefahr schwerer Hochwasser flussabwärts, etwa für Koblenz, Bonn und Köln. In der Folge wurde auch dort der Fluss weiter eingeengt. „Es kommt eine Spirale in Gang. Nach jeder Überschwemmung werden die Dämme noch höher, der Rhein noch schneller, was wieder zu mehr Hochwasser führt“, meint Heine. Erst seit den 1980er Jahren denke die Gesellschaft langsam anders über Technik: Nun gehe es mehr um Wassermanagement, um ausgewiesene Überflutungsflächen.

Viele Naturschützer würden dem Rhein gerne wieder mehr Raum geben, nicht nur in Rückhaltebecken, sondern in Auenwäldern. Renaturierungsmaßnahmen am Rhein seien aber quasi unmöglich, meint Museumsleiterin Baumgärtner. „An den Zuflüssen wie Murg und Alb geht das, aber am Rhein nicht mehr. Überall wurde bis ans Ufer gebaut, es gibt Staustufen. Eine Veränderung hätte auch Folgen für die Schifffahrt.“ Auch der Fischereibiologe Kroll spricht von einem „schwer veränderten Wasserkörper“ und ergänzt: „Das Gewässer ist so umgestaltet, das findet nie mehr in einen naturnahen Zustand zurück.“

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