Pogrom 1938 im Kreis Ahrweiler Kreisarchivar Leonhard Janta: "Ich hab' mit ihr geheult"

KREIS AHRWEILER · Das Pogrom vom 10. und 11. November 1938 jährt sich heute und morgen. Der General-Anzeiger fasst das Geschehen, Aussagen von Zeitzeugen und Recherchen von Kreisarchivar Leonhard Janta unter der Fragestellung "Was passierte wann und wo?" zusammen.

Synagogen und Betsäle

In Brand gesetzt wurden am 10. November die Synagogen in Ahrweiler, Bad Neuenahr und Remagen. Die Synagoge Niederzissen wurde verwüstet, wegen der angrenzenden Bebauung aber nicht angezündet. Verwüstet wurden ebenfalls die Betsäle in Sinzig und Königsfeld. Geschändet wurden die jüdischen Friedhöfe in Ahrweiler, Niederzissen, Rheineck und Niederbreisig. Die Gelsdorfer Synagoge wurde nicht beschädigt, da sie wegen Baufälligkeit seit 1926 nicht mehr genutzt wurde. Heute bestehen nur noch zwei Synagogen im Kreis Ahrweiler: Ahrweiler und Niederzissen. Beide wurden aufwendig renoviert, sind Kultur- und Begegnungsstätten, werden von Bürgervereinen geführt.

Gericht

Nur in einem Fall hatten die Ausschreitungen ein gerichtliches Nachspiel. 1951 endete der "Sinziger Synagogenprozess" vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Koblenz mit zwei Freisprüchen und drei Verfahrenseinstellungen. Begründung: Die Angeklagten waren vorher nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten.

Bad Neuenahr

Ein Trupp von SS- und SA-Leuten unter Leitung eines SS-Oberführers zertrümmerte die Scheiben des Textilgeschäftes Leiser an der heutigen Poststraße, danach ging es im Hause weiter. Anschließend, so ein weiterer Augenzeuge, kam das Hotel "Stadt London" an die Reihe. Fenster und Transparente zerbarsten unter den Schlägen einer Axt. Danach soll das Einsatzkommando zum Hotel "Bismarck" und zum Lederwarengeschäft Jakobs gefahren sein.

Ahrweiler

Es ist etwa acht Uhr morgens, als ein Lastwagen mit SA-Männern an der Synagoge an der Altenbaustraße in Ahrweiler vorfährt. Die Synagoge wird aufgebrochen, Bänke werden umgeworfen, Teppiche, Schriftstücke, Gebetbücher und die Thorarolle auf die Straße geschleppt und angezündet. Auch die Synagoge brennt. An diesem Morgen soll es auch gewesen sein, dass ein Lehrer beim Anblick der brennenden Synagoge an der Altenbaustraße laut rief: "Das ist der schönste Tag in meinem Leben." Wie mehrere Zeitzeugen unabhängig voneinander dem GA bestätigten, handelte es sich bei dem Lehrer um einen aktiven SA-Mann.

Dass es in Ahrweiler nicht zu noch größeren Ausschreitungen kam, wird darauf zurückgeführt, dass ehemals aktive Linke unter Führung eines Kommunisten die SA in eine massive Straßenschlacht verwickelten und der nicht gerade großen braunen Truppe kein Freiraum für weitere Verwüstungen blieb. Die Synagoge überstand als massives Bruchsteingebäude den Brand, wurde aber auch wegen der benachbarten Schule gelöscht. In welchem Zusammenhang der Freitod eines Ahrweiler Juden mit dem Pogrom steht, ist nicht mehr zu klären. Zeitzeugen bestätigen, dass er sich in seiner Metzgerei an der Plätzergasse die Kehle durchschnitten hat.

Remagen

Feueralarm machte auf die brennende Synagoge aufmerksam. Bereits auf dem Schulweg hatte eine Schülerin, die von Kreisarchivar Leonhard Janta als Zeitzeugin genannt wird, Spuren von Verwüstungen an jüdischen Wohnungen und Geschäften gesehen. So war auch das Schaufenster von Jonas Levy eingeschlagen worden. Auf dem Schulhof stand an diesem Morgen die jüdische Schülerin Inge Faßbender und weinte. Die ehemalige Mitschülerin erinnert sich, dass mehrere Klassenkameradinnen "mit ihr geheult haben", als die Synagoge an der Grabenstraße in Flammen stand."

Sinzig

Die Ausschreitungen in Sinzig begannen laut Janta bereits in der Nacht vom 9. auf den 10. November. Vier Wohnungen und der Betsaal in der Martelsburg wurden verwüstet. Die Polizei hatte vom Bürgermeister die Anweisung erhalten, "nicht in Erscheinung zu treten". Vier Sinziger und zwölf weitere Juden, es soll sich vermutlich um Männer aus Ahrweiler, Neuenahr und Remagen gehandelt haben, wurden am 10. November mit einem Feuerwehrfahrzeug in das Koblenzer Gestapogefängnis gebracht.

Dernau

Ob die Demolierung des Autos von Ludwig Schweitzer, eines Juden aus Dernau, ebenfalls auf das Konto eines Stoßtrupps geht, kann nicht mehr entschieden werden. Fest steht, dass der Altenahrer Amtsbürgermeister am 27. Dezember 1938 meldete: "Der Wagen ist nicht betriebsfähig, da die Fenster eingeschlagen sind und die Decke durchlöchert ist."

Grafschaft

In Nierendorf zertrümmerten SA-Leute die Einrichtung des ansässigen Kolonialwarengeschäftes von Heinrich Jakob, das Haus wurde komplett verwüstet. Darüber berichtet Pastor Johannes Häbler ausführlich in seiner Dorfchronik (der GA berichtete am Donnerstag). In Gelsdorf wurde das Schaufenster des Ladens von Albert Cremer eingeschlagen.

Stille Helden

Es gab in der Zeit der NS-Gewaltherrschaft aber auch Menschen im Kreis Ahrweiler, die ihr Leben riskierten, um jüdische Mitbürger zu retten. So Josef Heinen aus Ahrweiler, der über Jahre hinweg die jüdische Familie Sonnenfeld versteckt hielt. Er wurde vom Staat Israel später als "Gerechter unter den Völkern" geehrt. Sein Name ist in der Gedenkstätte Yad Vashem bei Jerusalem verewigt und steht dort in einer Reihe mit Oskar Schindler. Oder auch Katharina Becker, die auf dem Meldeamt der Kreisstadt Ahrweiler Akten verschwinden ließ, damit eine jüdische Familie von den Nazis nicht aufgespürt werden konnte.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort