Sänger Hans-Wolf Schölling und Hänsel und Gretel Die Sehnsucht nach der Mutter

SIEBENGEBIRGE · Der freie Eifelblick von den Bad Honnefer Anhöhen ist durch die üppige Vegetation in diesen Sommermonaten oft verstellt. Hans-Wolf Schölling bedauert das etwas, weil er die Aussicht noch schöner kennt. Und er bedauert es nicht, weil so das Leben ist: Es läuft nicht immer alles glatt.

Das musste der leidenschaftliche Sänger im Bad Honnefer Männerchor, der sein Leben lang als selbstständiger Unternehmer gearbeitet hat, immer wieder am eigenen Leib spüren. So wie auch Hänsel und Gretel. Sofort war ihm dieses Märchen eingefallen, als es um die Frage ging, welches der Grimm'schen Hausmärchen ihm aus der Kindheit am eindrücklichsten in Erinnerung geblieben ist.

Die beiden Kinder also, die von ihrem Vater im Wald ausgesetzt werden, weil die Mutter meint, die Familie müsste sonst verhungern. Hans-Wolf Schölling kennt den Hunger. 1939 ist er in Hagen geboren, im Zweiten Weltkrieg Kind gewesen und auch danach. Obwohl das ja immer so eine Frage ist, wann man zu diesen Zeiten erwachsen wurde.

Für einen Kanten Maisbrot musste der kleine Hans-Wolf zwei bis drei Stunden in der Schlange beim Bäcker warten. Einem Kumpel hatte die Mutter mit auf den Weg gegeben, er solle seinen Berliner bloß nicht mit anderen teilen. "Diese Geschichte ist mir gut in Erinnerung geblieben. Ist es da ein Wunder, dass man schnell reich werden wollte, nur für sich?"

Er hat sich damals ein ums andere Mal vorstellen müssen, ob er in seiner Kindheit den süßen Verlockungen der menschenfressenden Hexe erlegen wäre, denen Hänsel und Gretel in dem Märchen der Gebrüder Grimm folgten. "Natürlich wäre ich das", sagt er. Einige Male versuchte er, den engen Familienbanden zu entkommen; der Mutter, die nicht immer Zeit für den Einzelnen hatte, weil sie fünf Kinder großziehen musste, und der Vater bereits im Jahr 1943 bei Stalingrad gefallen war. "Der Stiefvater war in Ordnung, aber es ist eben doch etwas anderes, wenn der leibliche Vater bei einem ist", meint Schölling.

Als junger Erwachsener trat er seine nächste und längste Flucht an: die in den Alkoholexzess. In seiner Erinnerung kommt es ihm, dem seit 40 Jahren trockenen Trinker, vor, als stünde er kopfschüttelnd neben sich selbst. Auf einer Bank an der Eifelhütte fasst er seine Erfahrungen aus dieser Zeit in einem Satz zusammen: "Ich habe die Vögel nicht mehr gehört."

Aber die Dinge haben sich zum Guten gewendet für ihn. Zweite Frau, zweites Kind. Vor acht Jahren ist der 76-Jährige, der unter anderem als Wirt und Taxiunternehmer gearbeitet hat, nach Bad Honnef gezogen, um näher bei der Tochter und den Enkeln zu sein. Auch zum Sohn aus erster Ehe hat er ein gutes Verhältnis.

Er hadert nicht mit der Vergangenheit: "Es ist der Weg, den ich gehen musste. Und ich bin froh, dass ich heute keine Belastung mehr bin." Diese Entwicklung machen auch die Kindern im Märchen durch. Gretel nutzt eine Gelegenheit, um die böse Hexe in den Ofen zu schubsen. Die Geschwister klauben ihre Schätze zusammen und kehren zum Vater zurück. Im Märchen ist die Mutter in der Zwischenzeit gestorben, Hänsel und Gretel fehlt es an nichts.

Hans-Wolf Schöllings Mutter ist seit mehr als 20 Jahren tot. Aber das Ave Maria gehört immer noch zu seinen liebsten Stücken, jenes Lied, das die Sehnsucht nach der Mutter ausdrückt.

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