Fall Anna: Ärztinnen vertrauten der Pflegemutter blind

Bonn · Annas Ärzte zeichnen von der Frau, die bisher im Prozess weitgehend geschwiegen hat, das Bild einer starken Persönlichkeit. Zumindest so stark, dass sie selbst der Pflegemutter fast alles glaubten, was die ihnen erzählte.

Fall Anna: Ärztinnen vertrauten der Pflegemutter blind
Foto: Roland Kohls

Was ist Annas Pflegemutter für ein Mensch? Gemeinsam mit ihrem Mann muss sie sich seit vier Wochen vor dem Bonner Landgericht verantworten, die Staatsanwaltschaft wirft dem Paar schwere Misshandlung von Schutzbefohlenen in 55 Fällen vor. Im letzten Fall, am 22. Juli 2010, als Anna in der Badewanne starb, mit Todesfolge.

Und Annas Therapeutin, die sie ein Jahr lang begleitete, ihre Hausärztin in Bad Honnef und der Sozialpädagoge von der Rheinischen Diakonie in Düsseldorf, der zu Hilfe gerufen wurde, als die Situation mit dem Mädchen immer schwieriger wurde - sie alle haben fast nichts bis nichts mitbekommen und sind völlig fassungslos, dass Anna tot ist.

Vor allem die beiden Ärzte zeichnen von der Frau, die bisher im Prozess weitgehend geschwiegen hat, das Bild einer starken Persönlichkeit. Zumindest so stark, dass sie selbst der Pflegemutter fast alles glaubten, was die ihnen erzählte. Beide kannten die Angeklagte seit vielen Jahren und vertrauten ihren Aussagen.

Dabei hatte die Therapeutin, die Kinderärztin ist und seit 30 Jahre als Halbtagskraft beim Rhein-Sieg-Kreis Schuluntersuchungen vornimmt, im ersten Moment einen ganz anderen Eindruck gehabt, als sie Anna Anfang 2009 kennenlernte. "Ich war der Meinung, dass das Kind besser in einer Tagesklinik aufgehoben wäre", sagt sie.

In Sankt Augustin wäre sogar ein Platz frei gewesen, doch die leibliche Mutter und das Jugendamt hätten zustimmen müssen. "Die Pflegemutter sagte damals, das Jugendamt wolle nach Annas Heimunterbringung keine erneute Trennung", sagt sie. Zuvor war Anna ein Jahr im Heim gewesen.

Im Sommer 2009 habe sie dann mit Anna eine Therapie begonnen. Wöchentlich war diese geplant, doch bis zu Annas Tod ein Jahr später fanden nur etwa 20 Gespräche statt, meist weil Anna krank war oder die Pflegefamilie den Termin absagte. "Anna war ein sehr fröhliches Mädchen, aber etwas unstet. Aus allem ging hervor, dass ihre ,Tanti' die wichtigste Person in ihrem Leben war."

Die "Tanti", das war Annas Pflegemutter. Weil die Therapeutin, die Jahre zuvor bereits den leiblichen Sohn der Pflegemutter behandelt hatte, große Stücke auf diese hielt, war sie auch bereit, auf Drängen der Pflegemutter ärztliche Stellungnahmen zu verfassen, in denen sie vom Kontakt mit der leiblichen Mutter wegen der Belastung für Anna abriet. Auch weil es danach immer wieder zu massiven autoaggressiven Handlungen käme.

Doch das wusste sie nur von der Pflegemutter "Ich habe ihr zugestanden, dass sie das Richtige für Anna wollte. Ich habe ihr einfach geglaubt", räumt sie ein. Das sei ein Fehler gewesen. Wie sehr er ihr zu schaffen macht, merkt jeder im Gerichtssaal. Auch die Probleme beim Essen und beim Baden stellten sich für die Therapeutin nicht so dramatisch dar. Anna selbst habe auf ihr Problem mit dem Baden hingewiesen. "Sie hat das immer sehr verschmitzt gesagt. Ich habe keine Angst gespürt, ihr war das eher peinlich."

Auch Annas Hausärztin, bei der das Mädchen seit 2008 in Behandlung war, hatte bis zum 7. Mai 2010 nichts Auffälliges mitbekommen, als Anna mit zwei blauen Flecken zu ihr in die Praxis kam. Die Pflegemutter berichtete ihr, Anna habe sich die Verletzungen selbst zugefügt. "Sie hatte mir schon früher erzählt, dass Anna autoaggressiv sei und als Kind missbraucht worden wäre", sagt die Ärztin. In einem Attest für das Jugendamt war sie bereit, Annas Autoaggressivität zu bescheinigen, obwohl auch sie dies nur von der Pflegemutter wusste. Und, dass Anna eine Wasserphobie habe. Auch das wusste sie nur von der Pflegemutter.

Auch der Sozialarbeiter von der Rheinischen Diakonie bekam Anna in einem halben Jahr nur drei Mal zu Gesicht, stets in Begleitung der Pflegeeltern. Auch er glaubte an Annas Autoaggressivität, weil dies schon Annas Ärzte diagnostiziert hätten. Am Abend seines ersten Gesprächs mit Anna und ihren Pflegeeltern am 12. November 2009 riefen die Nachbarn die Polizei. "Ich habe erst später erfahren, dass sich Anna über das Gespräch so sehr aufgeregt hat", sagt er nun. Erstaunlich: Weder die Therapeutin noch der Diakonie-Mitarbeiter erfuhren etwas von Plänen, Anna in einem Heim unterzubringen.

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