Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten In Portugal auf den rechten Weg

NIEDERDOLLENDORF · Das Kinderheim Probsthof schickt seit zehn Jahren Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten ins Ausland. Zu den ersten gehörte die heute 24-jährige Julia.

 Der Umgang der Jugendlichen mit Tieren spielt eine wichtige Rolle im Konzept des Probsthofs.

Der Umgang der Jugendlichen mit Tieren spielt eine wichtige Rolle im Konzept des Probsthofs.

Foto: Probsthof

Einmal ist Julia (Name von der Redaktion geändert) zu Fuß abgehauen. "Ich war so weit weg von der Stadt und dem Strand", sagt sie. Damals - vor genau zehn Jahren - war sie 14 Jahre alt und die erste Jugendliche, die das Evangelische Kinder- und Jugendheim Probsthof zu einer intensivpädagogischen Maßnahme nach Portugal begleitete.

Heute lebt Julia immer noch in Portugal und arbeitet in der Gastronomie. Nach vier Jahren unter der Ägide des Probsthofes hatte sie auf der Iberischen Halbinsel ihren Hauptschulabschluss gemacht und anschließend eine Ausbildung. "Ich habe mit Hilfe des Probsthofes in Portugal ein neues Leben anfangen können", erzählt sie am Telefon.

Als sich das Bonner Jugendamt vor zehn Jahren hilfesuchend an den Probsthof gewandt hatte, weil herkömmliche Maßnahmen für das Mädchen nicht mehr erfolgversprechend erschienen, wurde Julia Teil eines neuen Projektes. Für sie selbst war die Reise aufregend und erst mal ernüchternd. "Ich habe damals gedacht, ich bin hier in der Pampa, ohne gar nichts. Erst war ich ziemlich böse, nicht unter Leute zu kommen. Ich habe ein Jahr gebraucht, bis ich mich entschieden habe, hier zu bleiben."

Ohne ihre Einwilligung hätte Julia nicht in Portugal bleiben müssen. Freiwilligkeit und Mitwirkung sind wesentliche Voraussetzungen für ein gutes Gelingen der Maßnahme. "Heute lache ich darüber", sagt Julia. Sie habe immer noch Kontakt zu den Leuten vom Probsthof.

Möglichkeit der Neuorientierung

Zum Beispiel zu Anne Lück, die Julia bei der Premiere des Projekts vor zehn Jahren nach Portugal begleitete und bis heute Bereichsleiterin für die Individualpädagogik im Probsthof ist. "Die Situation für Julia war vor zehn Jahren sehr, sehr schwierig", sagt Lück. "Julia lebte in einer Außenwohngruppe. Manchmal ist eine Trennung vom bisherigen Lebensumfeld einfach notwendig. Abgeschiedenheit und räumliche Distanz sind dabei wichtige Faktoren des von uns gewünschten und für notwendig erachteten Milieuwechsels."

Julia wurde dadurch eine Neuorientierung ermöglicht; allerdings geht es den Jugendlichen zunächst häufig so, wie Julia ihre Ankunft in der "Pampa" beschreibt. Der "Kulturschock" - alles anders als gewohnt: Landschaft, Klima, Sprache und die Menschen, aber genau in dieser ungewohnten Situation liegt die Möglichkeit, Neues auszuprobieren, zu akzeptieren und zu erleben, sagt Lück.

In Portugal wurde Julia in einer deutschen Betreuerfamilie untergebracht. Mindestens ein Betreuer muss dabei eine pädagogische Ausbildung haben. Lück: "Dabei geht es in der Arbeit mit den Jugendlichen im Wesentlichen um das Verhalten, das wir selbst vorleben und die Fähigkeit, Dinge kritisch zu hinterfragen, aber auch um die Bereitschaft, sich selbst mal infrage stellen zu lassen. Nicht der rundum souveräne Erwachsene ist gefragt, sondern ein Mensch, der die Gefühle der Jugendlichen ernst nimmt, ihnen Verlässlichkeit und Sicherheit bietet."

Unterricht durch Lehrer der Bonner Siebengebirgsschule

Den Unterricht übernimmt ein Lehrerteam der Bonner Siebengebirgsschule, mit der der Probsthof seit zehn Jahren zusammenarbeitet. "Das unterscheidet uns von anderen Anbietern, die die Schüler über das Internet unterrichten. Wir wollen einerseits einen relativ normalen Schulalltag für die Kinder und andererseits die Zugehörigkeit zu einer deutschen Schule mit deren Standards", sagt Lück. Auch im Hinblick auf die oft schwierige Rückführung nach Deutschland sei das wichtig.

Der Leiter der Siebengebirgsschule, Achim Bäumer, ist mindestens zweimal pro Jahr vor Ort und übernimmt dann den Vorsitz in den Prüfungen. Dabei ist neben der hohen Fachlichkeit auch jede Menge "Herzblut" und Engagement des Schulleiters dabei. 99 Prozent der Schüler machen auf der Iberischen Halbinsel ihren Abschluss.

"Was alle unsere Jugendlichen miteinander verbindet, ist ihre abgerissene Schulbiografie. Sie haben die Schule nicht mehr regelmäßig, zum Teil seit einem halben Jahr nicht mehr besucht. Sie sind meist 14 bis 15 Jahre alt, in der Gruppe nicht mehr tragbar und haben Heimerfahrung. Die Problematik ist sehr vielschichtig. In der Regel liegen aber Einflüsse von außen vor", sagt Lück. Insgesamt habe man die Erfahrung gemacht, dass die räumliche Trennung von Unterricht und Betreuung sehr wichtig ist.

"Unsere Jugendlichen sind stolz auf ihre Schule, beginnen sich in der Regel sehr schnell damit zu identifizieren, lernen ihre Ressourcen wieder neu zu entdecken und alte, negativ besetzte Assoziationen sehr rasch zu vergessen oder zumindest zu relativieren", so Lück. Erwachsene, zu denen sie in Deutschland keine Bindung mehr aufbauen konnten, könnten in der Fremde wieder zu Bezugspersonen werden. "Der Jugendliche muss sich ganz neu orientieren, weil er sich weder in Sprache noch Umfeld auskennt."

Problematisch könnte die Rückführung nach Deutschland sein

Aber auch der Umgang mit Tieren, die es zu versorgen gelte, wie Hunde, Ziegen oder Pferde, könnte eine Rolle spielen. Meist erlebten die Jugendlichen dadurch für sie vorher nicht bekannte Erfolgserlebnisse. Der gelegentlich geäußerten Kritik an der Geldverschwendung oder an negativen Beispielen hält Lück die vielen erfolgreichen Biografien entgegen. "Es gibt immer schwarze Schafe und schlechte Arbeit wie überall sonst auch. Leider wird von negativen Schlagzeilen in diesem kleinen Bereich der Jugendhilfe häufig sehr stark Notiz genommen", sagt Lück. "Das kann uns aber nicht entmutigen, weiter durchzustarten und Jugendlichen, für die es passt, diese Riesenchance anzubieten."

Problematisch könnte aber vor allem die Rückführung nach Deutschland sein. "Das alte Umfeld hat oft nicht so intensiv an sich gearbeitet wie die Jugendlichen selbst. Beim Wieder-Fuß-Fassen gehen sie manchmal noch ihre Umwege. Wir dürfen sie dabei nicht aus den Augen verlieren."

So, wie Anne Lück Julia nicht vergisst. Und sie in den acht Monaten, die sie selbst pro Jahr zur Betreuung des Projekts in Portugal oder Spanien verbringt, auch mal besucht. Julia möchte für immer in Portugal bleiben, aber gerne mal zu Besuch nach Deutschland kommen. Was denn ihre Heimat sei? "Alles. Mein eigentliches Herkunftsland Äthiopien, Portugal und Deutschland. Ich habe in Portugal gelernt, selbstständig zu werden. Der Probsthof hat mir dabei geholfen."

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