Buch über das jüdische Mädchen Ursula Wie eine Familie aus Oberdollendorf vor den Nazis nach Südafrika floh

Oberdollendorf · Gabriele Wasser stellt in Oberdollendorf ihr Buch über das Leben von Ursula Bruce aus der Oberdollendorfer Familie Süskind vor. Die Familie floh vor den Nazis nach Südafrika.

Im Brückenhofmuseum des Heimatvereins liest Gabriele Wasser aus ihrem Buch „Blind sein, lehrt deutlich sehen!".

Im Brückenhofmuseum des Heimatvereins liest Gabriele Wasser aus ihrem Buch „Blind sein, lehrt deutlich sehen!".

Foto: Frank Homann

Ihr Lebensweg führte von Oberdollendorf nach Südafrika. Sogar in Nelson Mandelas Buch „Bekenntnisse“ ist über Ursula Bruce zu lesen. Ihre Wurzeln hat sie in den verzweigten jüdischen Familien Süskind und Cahn, die vor der NS-Herrschaft über lange Zeiträume die Ortsgeschichte des Weindorfs mitprägten. Gabriele Wasser und Eli Harnik haben Ursulas Schicksal aufgezeichnet. Im Brückenhofmuseum des Heimatvereins stellte die Autorin das Buch vor.

Vorsitzender Peter Kummerhoff unterstrich, wie bewegend diese Lebensgeschichte sei. Einige Besucher kannten Ursula Bruce noch. Im Publikum saßen die jetzigen Bewohner des Hauses an der Falltorstraße 23. In diesem Gebäude wurde 1926 die Hochzeit von Ursulas Mutter Fanny (Annie) Süskind mit dem Gießener Kaufmann Emil Pfeffer gefeiert. Ende Dezember 1928 kam die Tochter in Gießen zur Welt, wo sie auch die ersten acht Lebensjahre verbrachte.

Unser Foto zeigt Ursula Bruce (rechts) mit ihrer Mutter Anni Pfeffer, geborene Süskind, im Jahr 1933. Repro: Homann

Unser Foto zeigt Ursula Bruce (rechts) mit ihrer Mutter Anni Pfeffer, geborene Süskind, im Jahr 1933. Repro: Homann

Foto: Frank Homann

Von Geburt an, so berichtete Gabriele Wasser, habe das Mädchen unter einem Glaukom auf beiden Seiten gelitten. „So war Ursula von Kind an stark sehbehindert, die Krankheit führte langsam zur Erblindung.“ Ursula Bruce hatte gegenüber der Autorin geäußert: „Blind sein, lehrt deutlich sehen!“ Dieses Zitat wählten Wasser/Harnik dann auch als Titel des Buches.

Flucht vor den Nazis nach Südafrika

Diese Augenkrankheit wurde noch auf andere Weise zum großen Hindernis. Emil und Fanny Pfeffer wollten wegen der Schikanen unter den Nazis nach Amerika auswandern, da die USA aber nicht bereit waren, eine Familie mit einem behinderten Kind aufzunehmen, entschieden die Eltern, nach Südafrika zu gehen.

Erste Anfeindungen hatte Ursula bereits in Gießen erlebt. Und während der Vater mit Glück 1936 die Erlaubnis zur Auswanderung nach Südafrika erhielt und von dort aus die Papiere für Frau und Tochter beschaffen wollte, gingen Fanny und Ursula nach Oberdollendorf, ins Elternhaus von Funny Pfeffer.

Gabriele Wasser hatte zum einen das lange Interview, das die Shoa Foundation 1996 mit Ursula Bruce in Johannesburg geführt hatte, als auch persönliche Gespräche mit der Hauptperson ihres Buches während der Besuche in den 80er und 90er Jahren in Oberdollendorf als Grundlage, hinzu kamen Informationen von Pfarrer Georg Kalckert und Historiker Manfred von Rey sowie von Ursulas Cousine Ruth Dekker, die ihr auch Fotomaterial überließ. „Ursulas Persönlichkeit hat mich tief beeindruckt“, so Gabriele Wasser.

„,Du gehst mir so auf die Nerven, du willst immer noch mehr wissen‘, sagte mir Ursula Bruce einmal“, bekundete die Autorin schmunzelnd. 1987 hatte sie Bruce zum ersten Mal gesehen. „Mir kam es darauf an, ihren Sprachgebrauch so wenig wie möglich zu verändern“, erläuterte Wasser ihre Vorgehensweise.

„Die Jahre in Oberdollendorf waren, auf eine seltsame Art und Weise, die glücklichsten meines Lebens“, heißt es in dem Buch. Ursula Bruce erinnerte sich an Dorfidylle, erzählte von Tante Meta. Die ältere Schwester der Mutter führte den Haushalt. „Am Anfang war ich sehr glücklich in der Schule, ich hatte viele Freunde.“ Aber dann kam ein neuer Lehrer, der sie piesackte. Eine neue Mitschülerin versuchte nicht nur, alle anderen davon zu überzeugen, nicht mit Ursula zu spielen, sondern schlug ihr auch auf ein Auge. Das führte dazu, dass Ursula wohl noch früher ihr Augenlicht ganz verlor, mit 13 Jahren.

Schilderung der Pogromnacht in Oberdollendorf

Geschildert wird im Buch ausführlich die Pogromnacht. Schon vorher war die Familie isoliert. Mitschülerin Else Luft brachte Ursula auf verschlungenen Wegen die Schulaufgaben. Lenchen Richarz und Adele Lichtenberg sorgten heimlich für Lebensmittel. Beim Martinszug am 10. November 1938 ging Ursula mit. Ihre Mutter packte sie, als der Zug die Falltorstraße erreicht hatte. Bei Maria Höh wurde sie in der folgenden Nacht unterm Bett versteckt.

Es war die Zeit, als Emil Pfeffer die Erlaubnis erhielt, seine Liebsten nachzuholen. Im März 1939 brachte Nachbar Emil Meyer die beiden mit einem Auto aus Oberdollendorf fort. In Hamburg bestiegen sie das Schiff nach Südafrika.

Ursula lernte weiter. Sie wurde Telefonistin, studierte, wurde Lehrerin, heiratete den Engländer Robert Gordon Bruce, der mit Nelson Mandela bekannt war. Für die Eheschließung benötigten sie einen Heiratsvertrag – der trug Mandelas Unterschrift.

1955 besuchte Ursula Bruce Oberdollendorf zum ersten Mal wieder. Ihr Wunsch war es, auf dem jüdischen Friedhof, so wie ihre Vorfahren, zu ruhen. Da dort keine Bestattungen mehr möglich waren, erhielt sie nach ihrem Tod 2004 ein Ehrengrab auf dem Friedhof von Oberdollendorf. „Sie ist die Einzige, die, allerdings posthum, von der großen Familie Süskind zurückkehrte.“ Große Teile der Familien Süskind und Cahn wurden ermordet. Die Straßennamen Cahn’s Berg und Süskind’s Gäßchen erinnern an sie.

„Blind sein, lehrt deutlich sehen“ – Von Oberdollendorf nach Südafrika, BoD,128 Seiten, 10,99 Euro.

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