Interview mit Dagmar Hänel "Sagen sind Ausdruck einer Irritation der Menschen"

SIEBENGEBIRGE · Zwerge, Geister, Riesen - das Siebengebirge ist ein mystischer Ort. Im GA-Interview erklärt Kulturanthropologin Dagmar Hänel die Entstehung von Sagen und ihren wahren Kern. Dr. Dagmar Hänel ist Leiterin der Abteilung Volkskunde im LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte in Bonn.

 Kennt sich aus mit Sagen: Dagmar Hänel. Repro: GA

Kennt sich aus mit Sagen: Dagmar Hänel. Repro: GA

Sagen zum Siebengebirge gibt es in Hülle und Fülle - woran liegt das?
Dagmar Hänel: Das ist keine Besonderheit des Siebengebirges. Regionale Sagen sind sehr verbreitet, oftmals haben sie mit örtlichen Besonderheiten zu tun, wie zum Beispiel heutigen Baudenkmälern. Wenn deren tatsächlichen Ursprünge in Vergessenheit gerieten, erdichteten die Menschen Geschichten, um die Existenz der Dinge erklärbar und nachvollziehbar zu machen.

Was macht eine Sage aus?
Hänel: Sagen sind eine klassische Erzählgattung wie etwa auch Märchen. Im Gegensatz zu Märchen haben sie aber meist ein schlechtes Ende. Typisch ist der Einbruch des Numinosen, also übersinnlicher Kräfte und dunkler Mächte. In Sagen finden wir eine Vielfalt von Gestalten wie Kobolde, Heinzelmännchen oder auch Gespensterfiguren wie die weiße Frau.

Zu welcher Zeit sind Sagen etwa entstanden?

Hänel: Viele Sagen stammen aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Der Dreißigjährige Krieg, die vielfache Erfahrung von Gewalt, Vertreibung, zerstörter Heimatdörfer und der Verfall bisher gültiger Werte spielen hier eine wichtige Rolle.

Wozu dienten den Menschen Sagen?
Hänel: Sie hatten eine didaktische Funktion. Oft ist ihre Botschaft, dass auf Verhaltensweisen, die nicht den üblichen Normen entsprachen, durch eine übersinnliche Instanz eine Strafe folgt.

Haben Sie ein Beispiel für ein solches Vorgehen?
Hänel: Die Kölner Sage von den Heinzelmännchen - ein Kleinvolk, dass den Menschen half, aber verschwand, wenn man sie beobachten wollte. Dahinter steckt: Sei nicht zu neugierig!

Darf man einen wahren Kern hinter den Erzählungen annehmen?
Hänel: Sagen gehören ins Weltbewusstsein der Menschen der frühen Neuzeit. Sie sind Ausdruck einer Irritation der Menschen durch ihre Umwelt. Diese Irritation war für die Menschen sehr real. Dort, wo zum Beispiel unerklärliche Todesfälle vorkamen, nahm man eben an, es wären Geister am Werk.

Wie schafften es Sagen jahrhundertelang bis heute zu überdauern?
Hänel: Zunächst wurden Sagen ausschließlich mündlich überliefert. Im 18. Jahrhundert mit dem Erstarken der Naturwissenschaften waren es dann häufig Akademiker, die Sagen zusammentrugen, wie es zum Beispiel die Gebrüder Grimm gemacht haben, die nicht nur Märchen, sondern auch Sagen sammelten. Diese Werke wurden damals richtige Verkaufsschlager. Im 19. und 20. Jahrhundert kam dann die mediale Verbreitung hinzu. Klassische Sagenfiguren wie Zwerge, Gnome oder Riesen finden sich dann in Kinderbüchern oder auch Filmen und Serien wieder.

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