Geiseldrama von Gladbeck Vor 20 Jahren stoppte SEK Geiselnehmer auf A3

SIEGBURG · Holger Arndt kann sich gegen den Automatismus kaum wehren, wie er sagt. Immer wenn der 58-Jährige auf der für ihn so schicksalhaften Autobahn 3 von seinem Heimatort Sankt Augustin in Richtung Süden unterwegs ist, drängen sich ihm Bilder einer höchst persönlichen Gratwanderung mit Macht auf, die sich aber nur eingebettet in einem republikweiten, 54 Stunden währenden Schockzustand zwar erklären, aber nicht immer verstehen lässt.

Geiseldrama von Gladbeck: Vor 20 Jahren stoppte SEK Geiselnehmer auf A3
Foto: Holger Arndt

Es ist eine Art Film, der rasend schnell ein wenige Minuten dauerndes Ereignis vor seinem inneren Auge abspult, das vor 20 Jahren genau auf der A3 spielte, von zu allem entschlossenen Gangstern handelte, einem missglückten Polizeieinsatz, einer zweiten getöteten Geisel und überbordendem journalistischem Eifer.

Auf einem Stück Asphalt der Autobahn bei Bad Honnef beendete am späten Mittag des 18. August 1988 das Mobile Einsatzkommando (MEK) der nordrhein-westfälischen Polizei das Gladbecker Geiseldrama, das wegen seiner Brutalität und exzessiven Schaulust lange nachwirkte.

Denn bis dato beispiellos waren nicht nur die beiden eiskalten Gangster Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner, die mit vorgehaltener Waffe ihre Geiseln traktierten und letztlich zwei töteten.

Es waren auch jene Redakteure wie der spätere Bild-Chef Udo Röbel, der sich auf der Jagd nach der Exklusivgeschichte und vor laufender Kamera den Geiselnehmern in der Kölner Innenstadt als eine Art Scout regelrecht andiente und damit nach Meinung von Experten die Grenze des distanzierten Berichterstatters überschritt. Nichts war nach Gladbeck mehr so, wie es einmal war.

Auch Holger Arndt muss sich im Rückblick auf das Geiseldrama die Frage nach seinem Grenzgängertum bei zahlreichen Interviews und Befragungen gefallen lassen: Als einzigem war es dem damals 38 Jahre alten Fotografen dank Ortskenntnis, Glück, Spürsinn und einer großen Portion Risikobereitschaft gelungen, Bilder vom Polizeizugriff auf der abgesperrten A3 zu schießen, bei dem die 18 Jahre alte Geisel Silke Bischoff ums Leben kam.

Nachdem Degowski und Rösner ihren Verbrechenszug am 16. August mit einem Überfall auf eine Bankfiliale im Gladbecker Stadtteil Rentfort-Nord begonnen hatten und eine Odyssee mit wechselnden Geiseln über Bremen und die Niederlande folgte, erreichte am Morgen des 18. August 1988 das Gladbecker Geiseldrama Köln - und die Siegburger Redaktion des General-Anzeigers.

Während Degowski und Rösner mit den beiden Geiseln morgens noch in einem BMW 745i frech mitten in der Kölner Fußgängerzone parkten, palavernd und umlagert von Journalisten, kam Holger Arndt mit einem untrüglichen Gefühl in die Redaktion: "Die kommen hier auf der A3 durch", erinnert sich der 52-jährige Redaktionskollege Klaus Elsen der damaligen Worte des Fotografen.

Für diesen Fall gab es in der Redaktion keinen Zweifel: "Da die Geiselnahme bundesweit für Aufsehen gesorgt hat, berichten auch wir darüber", so Elsen damals. Hieß für Arndt: Bilder schießen, wenn die Geiselgangster irgendwo im Auto unterwegs sind. "An mehr war überhaupt nicht zu denken."

Schwierig wurde es insofern, als die Polizei die Fluchtroute, die A3, systematisch abgesperrt hatte. Zudem sicherten Polizeieskorten das Fluchtfahrzeug auch nach hinten gegen einen großen Pressetross ab. Dank Polizeifunk im Auto war Holger Arndt immer auf dem Laufenden, wo sich der Konvoi gerade befand.

Dann kam ihm auch noch das Glück zu Hilfe: Degowski stoppt den BMW an der Raststätte Siegburg-West. Dank altbekannter Schleichwege konnte Arndt als einziger Medienvertreter alle Absperrungen umgehen, kam tatsächlich gegen 13 Uhr auf die A 3 und sah den Wagen der Gangster vorbeirasen.

Er gab Gas, setzte sich "ohne zu zögern", wie er noch weiß, mit seinem Toyota Landcruiser hinter die Flüchtenden. So kam es zu einer kurzen, aber folgenreichen Konvoi-Fahrt der beiden Fahrzeuge auf der ansonsten völlig leeren dreispurigen Autobahn. Nach mehreren Überholmanövern hielt der BMW plötzlich hinter Arndts Toyota an.

Minuten später folgte der überraschende Rammstoß der MEK-Einsatzfahrzeuge, eine laut Arndt "wilde Schießerei" - und die tote Silke Bischoff auf der Fahrbahn, festgehalten auf Zelluloid. Holger Arndts Zelluloid. Ein Bild, das ihn erst Stunden später packte und nie wieder los ließ. "Während der Verfolgung und des Zugriffs gab es gar keine Zeit nachzudenken."

Erst beim Entwickeln der Filme, für die bereits Dutzende Medien wie der "Stern" Schlange standen, entdeckte er auf einem Abzug das tote Mädchen. "Eben lebte Silke Bischoff noch, als ich sie an der Raststätte sah. Und jetzt lag sie da tot auf dem Asphalt." Aus welcher Waffe kam der tödliche Schuss? Das wurde er oft gefragt, doch mit 100-prozentiger Sicherheit kann er keine Antwort geben.

Rund 200 Meter vom Schauplatz entfernt drückte er auf den Auslöser, zu weit weg, um Details zu erkennen. Dennoch versuchte er später, das Geschehen dort aufzuhellen, wo er konnte. Etwa bei Befragungen durch die Polizei, vor allem 1989 im Untersuchungsausschuss des Landtages in Düsseldorf.

Das Frage- und Antwortspiel war und ist für ihn eigene Vergangenheitsbewältigung. Denn immer wieder war von Schuld die Rede, insbesondere im Untersuchungsausschuss. Neben der unglücklichen Rolle der Polizei musste NRW-Innenminister Herbert Schnoor wegen seiner Öffentlichkeitspolitik Federn lassen.

Aber auch "Behinderungen durch Medienvertreter" beklagte der 339 Seiten starke Untersuchungsbericht, der nach rund einem Jahr Arbeit, 50 Sitzungen, 112 Zeugen und 25 000 Blatt Aktenmaterial am 27. März 1990 als Drucksache vorlag. Gerügt wurde vor allem, dass Journalisten dem Wagen der Gangster aus der Kölner City gefolgt waren und MEK-Beamte an der Verfolgung hinderten.

Für Arndt kann es keinen Zweifel geben: "Viel von der journalistischen Ethik ist bei der Verfolgungsjagd auf der Strecke geblieben." Und seine Rolle in dem Drama? Schließlich drückte er auf den Auslöser, als ihm widerfuhr, wovon hunderte Reporter träumten: Exklusiv dabei zu sein am Ort der Entscheidung.

So avancierten nicht nur seine Bilder zum Bestseller, sondern auch er selbst wurde zum gefragten Zeugen - dem junge Peter Kloeppel von RTL gab er unmittelbar nach den Geschehnissen das erste Interview. Holger Arndt sieht dennoch Unterschiede. "Es waren keine Fotos um jeden Preis. Ich habe meine Arbeit gemacht, in Grenzen, die ich verantworten kann."

"Es war eine Gratwanderung", so sieht Klaus Elsen noch jetzt Arndts Einsatz auf der A3. Auch der weiß um das brüchige Eis, auf dem er stand: "Die Sache entwickelt eine solche Eigendynamik, dass man erst hinterher überlegt." Darum ist es für Holger Arndt unstrittig, dass auch er aus dem Geschehen "nicht mit einem Heiligenschein herauskam".

Er denkt an seinen Taschenspielertrick, um damals auf der Autobahn die Filme vor dem heranstürzenden MEK-Mann zu retten: Er ließ sie blitzschnell im Strumpf verschwinden, bevor ihm die Kamera abgenommen und er gefilzt wurde.

Und doch scheiden sich seiner Meinung nach an jenen Journalisten die Geister, die sich vor 20 Jahren in der Kölner Innenstadt den mit ihren Geiseln posierenden Gangstern "als Helfershelfer andienten". Da wurde so mancher zum Kaffee-Holer und Informations-Beschaffer, um mit der besseren Schlagzeile aufmachen zu können. "Die privaten Sender waren gerade auf dem Markt.

Und was passt besser ins Sommerloch als eine Nachricht der Sorte: “Schönes blondes Mädchen zweieinhalb Tage lang von Geiselgangstern festgehalten„?" Arndt hegt keine Zweifel: "Die totale Medienpräsenz hat die Arbeit der Polizei nicht nur behindert, sondern die Selbstherrlichkeit und Arroganz der Gangster ins Irreale gesteigert."

Trotz aller Besserungsgelöbnisse glaubt er nicht an die Einmaligkeit jenes Medien-Spektakels. "Das liegt auch daran, dass es immer Leute geben wird, die solche Berichte sehen wollen." Für ihn wird Gladbeck immer Anlass bleiben, "seine Arbeit kritisch zu hinterfragen".

Emotional loslassen wird ihn die Geschichte ohnehin nie. Dazu passiert er zu oft jene Stelle auf der A3, an der Silke Bischoff nach einem in vielerlei Hinsicht wirklichen Drama sterben musste. Das Holzkreuz, dass lange Zeit an ihren Tod erinnerte, ist weg. Die Erinnerung bleibt.

Das Gladbecker Geiseldrama:

Das Drama von Gladbeck hielt Deutschland 1988 drei Tage lang in Atem. Eine Chronologie:

16. August: Gegen 8 Uhr dringen Hans-Jürgen Rösner (31) und Dieter Degowski (32), vermummt und mit Maschinenpistolen bewaffnet, in eine Bankfiliale in Gladbeck-Rentfort ein und nehmen einen Kassierer und eine Kundenberaterin als Geiseln.

Am Abend fahren sie unter den Augen der Polizei und im Blitzlichtgewitter der Presse mit den beiden Geiseln und mindestens 420.000 Mark Lösegeld ab. Noch in Gladbeck steigt ihre Komplizin Marion Löblich (34) zu. Sie fliehen Richtung Bremen. Später wechseln die Täter mehrfach ihr Fluchtauto.

17. August: Kurz nach 19 Uhr kapern die Geiselnehmer in Bremen einen Nahverkehrsbus mit etwa 30 Fahrgästen, darunter Kinder. Fünf Geiseln werden freigelassen. Gegen 23 Uhr lassen die Gangster die beiden Bankangestellten an der Raststätte Grundbergsee frei.

Als die Polizei die Komplizin Löblich überwältigt und auf Forderung der Gangster nicht gleich wieder frei lässt, erschießt Degowski den 15-jährigen Italiener Emanuele de Georgi. Die Polizei gibt Löblich frei. Der Bus fährt Richtung Holland.

18. August: Gegen 2.30 Uhr rollt der Bus über die niederländische Grenze. Wieder fallen Schüsse, der Busfahrer und Löblich werden verletzt. Im Austausch gegen ein neues Fluchtauto werden fast alle Geiseln freigelassen.

Mit den beiden jungen Frauen erreicht das Trio um elf Uhr Köln. Im Gespräch mit Journalisten drohen die Geiselnehmer, "zu allem entschlossen" zu sein. Anschließend brausen sie in Richtung Frankfurt davon.

Gegen 13.50 Uhr greift die Polizei mit Waffengewalt ein. Sie stoppt das Fluchtauto auf der A3 bei Bad Honnef. Die Geisel Silke Bischoff wird dabei von Rösner erschossen, ihre Freundin überlebt schwer verletzt.

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