Flüchtlingssituation in Sankt Augustin Familienersatz auf Zeit

Sankt Augustin · Der 16-jährige Nazir Ibrahimi ist ohne Familie geflohen und lebt bei Gasteltern. Wo im Vorjahr bei der Unterbringung noch Chaos herrschte, haben sich mittlerweile feste Strukturen entwickelt.

Nazir Ibrahimi hat ganz normale Träume, wie vermutlich viele andere 16-Jährige. „Ich möchte das Abitur machen, danach Medizin studieren“, sagt der Afghane, der mittlerweile in Sankt Augustin lebt. Doch normal ist bei Ibrahimi eigentlich ziemlich wenig – zumindest gemessen an deutschen Maßstäben. Denn der 16-Jährige hat im vorigen Herbst seine Heimat, seine Familie, sein altes Leben verlassen. Aus Angst – um sein Leben.

Die Taliban wollen ihn und seine Altergenossen damals nach eigener Aussage aus seinem Heimatort holen, er wird ins Bein geschossen, soll nicht mehr zur Schule gehen, sondern für die Terror-Miliz arbeiten. Es ist der Moment, in dem Ibrahimi weiß: Ich muss weg. Also verlässt er seine Eltern, die drei jüngeren Brüder, die zwei jüngeren Schwestern. Er flieht zunächst nach Pakistan, dann in den Iran. Vier Wochen dauert die Flucht, er geht zu Fuß, fährt Bus und Boot. Ein Schlepper bringt Ibrahimi und andere Flüchtlinge über das Mittelmeer. Laut Ibrahimi ertrinken 15 Menschen. Er sagt über seine Flucht über die sogenannte Balkanroute nach Deutschland: „Ich habe viel erlebt.“

Ibrahimi steigt schließlich am 12. November in Sankt Augustin aus dem Bus. Er ist der erste unbegleitete minderjährige Flüchtling (UMF), den die Stadt Sankt Augustin aufnimmt. In der Notunterkunft der Alten Post verbringt er die ersten sechs Wochen. Die Einrichtung ist spärlich, doch er sagt: „Ich war froh über die Unterkunft, weil ich so müde von der Reise war und mich einfach sicher fühlen wollte.“

Der 16-Jährige ist einer von mittlerweile 33 minderjährigen Asylbewerbern, die das Jugendamt betreut. Das Problem: Sie müssen irgendwo unterkommen, im Idealfall in einem behüteten Umfeld, sprich: in Gastfamilien. Deshalb hat die Stadt seit Oktober Gasteltern gesucht und in einem ersten Kursus auf ihre Aufgaben vorbereitet. Was erwartet sie? Wer bezahlt die anfallenden Kosten? Fragen, die der Kursus beantworten soll. „Die Familien müssen gut vorbereitet und begleitet werden“, sagt Edelgard Eßer, zuständige Fachdienstleiterin.

Mit dabei: Susanne Lebrecht-Vallender, 57, und ihr Ehemann Hans Peter Vallender, 60. „Eigentlich wollten wir uns erst mal nur erkundigen“, sagt Vallender. Doch plötzlich ging alles ganz schnell: Am 23. Dezember nehmen die beiden Nazir Ibrahimi auf. „Das war wie ein Weihnachtsgeschenk für uns“, sagt Lebrecht-Vallender. „Wir mögen in sehr, sehr gerne.“ Ihre eigenen Kinder sind mittlerweile aus dem Haus. Zur Motivation sagt sie: „Wir haben noch genug Liebe, die wir weitergeben wollen.“ Ibrahimis Lebensunterhalt ist laut Stadt über ein Pflegegeld abgesichert.

Doch es gibt auch Hindernisse, gerade zu Beginn. „Die Sprache war ein Problem, das war nicht einfach. Aber mit Englisch und Händen und Füßen ging es“, sagt Vallender. Er hat zum Thema Sprache eine feste Meinung: „Er muss deutsch sprechen können, um hier etwas zu erreichen“, sagt der Rentner. Tatsächlich spricht Ibrahimi überraschend gut Deutsch – vor allem angesichts der Tatsache, dass er erst sechs Monate in Sankt Augustin lebt und seit dem 1. Februar eine internationale Vorbereitungsklasse in Niederpleis besucht. Laut Vallender hat er schon zwei Klassen übersprungen. „Er ist sehr intelligent und lernbegabt“, sagt er.

Doch trotz aller Fürsorge fehlt Nazir Ibrahimi seine „richtige“ Familie in Afghanistan, die er zum ersten Mal verlassen hat. „Wir haben sehr eng zusammengelebt, ich vermisse sie. Es ist nicht leicht für mich, wenn ich an sie denke“, sagt er. Einmal pro Woche telefoniert er in die alte Heimat, erzählt von seinem neuen Leben, von seinen Eindrücken. Ibrahimi geht mittlerweile einmal pro Woche schwimmen. Fußball spielen kann er nicht, wegen der Schussverletzung im Bein. Sein Asylantrag läuft noch, als Minderjähriger darf er aber laut Stadt ohnehin nicht abgeschoben werden. Hans Peter Vallender sagt: „Wir haben gemerkt, dass wir Menschen helfen können. Die Leute sollten die Flüchtlinge erst mal kennenlernen und dann urteilen und nicht andersherum.“

Die Stadt sucht weitere Gastfamilien. Interessenten wenden sich an Claudia Lahn-Abed, E-Mail: c.lahn-abed@sankt-augustin.de oder unter 0 22 41/24 35 38.

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