Inklusion in Dinslaken In der WG hat er seine Freunde

Dinslaken · Sechs geistig Behinderte leben so selbstbestimmt wie möglich in einer gemeinsamen Wohnung. Die Bewohner kaufen je nach Fähigkeit selber ein, waschen ihre Sachen, putzen und kümmern sich um den Müll.

 Vier Freunde sollt ihr sein: Tobias (l.) und Andreas spielen mit Marc (hinten rechts) und René in der Albert-Schweitzer-Einrichtung Kicker. FOTO: BAUER

Vier Freunde sollt ihr sein: Tobias (l.) und Andreas spielen mit Marc (hinten rechts) und René in der Albert-Schweitzer-Einrichtung Kicker. FOTO: BAUER

Foto: Hans-Juergen Bauer (hjba)

Andreas und Tobias sind beste Freunde. Sie leben Tür an Tür, teilen ein Badezimmer und die Leidenschaft für Fußball. Andreas leidet mit Bayern München, Tobias zittert mit dem MSV Duisburg. Ein Fanshop-Beauftragter hätte seine Freude an ihren Zimmern: Schals, Fahnen und Kissen, wohin das Auge blickt. An der Wand hängen auch ein paar erotische Frauen-Fotografien. Männer-WG halt.

Die beiden arbeiten seit Jahren in einer Werkstatt für Behinderte: Andreas sortiert Wäsche, Tobias fährt sie mit dem Lastwagen zu den Kunden und holt sie ab. Nach Feierabend treffen sie sich im Wohnzimmer, schauen fern, kochen. „Andreas ist der beste Koch“, sagt Tobias.

Die Freunde leben mit vier anderen Männern im Alter zwischen Anfang 20 und Mitte 40 in der rund 220 Quadratmeter großen Wohnung in Dinslaken. Sie wird unterhalten von den Albert-Schweitzer-Einrichtungen für Behinderte (ASE) und ist ein inklusiver Wohnraum in einem Mehrparteienhaus. Ziel ist es, dass die sechs so selbstständig wie möglich leben. Das Haus liegt mitten in einer Wohnsiedlung.

Morgens gehen die Bewohner alle zur Arbeit. Außerhalb der Arbeitszeiten ist ein Betreuer anwesend. Auch nachts ist immer ein Mitarbeiter vor Ort, er schläft in einer Einliegerwohnung nebenan. „Wenn alles gut läuft, gibt es nachts nur noch eine Notrufnummer, die die Bewohner dann anrufen können“, sagt Rosetta Zotta-Plein, Bereichsleiterin bei der ASE für ambulante Hilfen. Anfangs gab es ein paar Probleme, typisch für Wohngemeinschaften: Lautstärke, Ordnung und Disziplin. „Das ist wie bei anderen jungen Menschen. Da gibt es eben auch pubertäres Verhalten“, sagt Marion Basteck, ASE-Koordinatorien für ambulantes Wohnen. Und da die Wohngruppe Mieter ist, gibt es auch wie mit anderen Nachbarn ab und zu ein wenig Stress.

Andreas hat 13 Jahre lang allein gelebt. „Aber als meine Eltern gestorben sind, habe ich gemerkt, dass ich keine Freunde habe“, sagt der 45-Jährige. Seine Schwester wohnt weit weg, und so fühlte er sich einsam. „Ich wollte unbedingt hier wohnen, weil ich hier Freunde habe“, sagt er. Die Wände seines Zimmers hat er gerade mit Hilfe einer Betreuerin selbst gestrichen. Früher waren sie bayern-rot, nun sind sie gelb und grün. Die WG-Bewohner verstünden sich gut, ab und zu gibt es Streit, zum Beispiel, weil einer zu viel krümelt oder weil die Freundin eines Bewohners für die anderen zu oft da ist. „Ich möchte hier aber nicht mehr ausziehen“, betont Andreas.

In ihrer Freizeit machen die Sechs, worauf sie Lust haben. Ein Bewohner verabschiedet sich am Nachmittag, er fährt zu seiner Freundin. Ein anderer liebt Bahnfahren und ist vor allem am Wochenende gerne NRW-weit unterwegs. „Er weiß, wenn etwas ist, kann er uns immer über das Notfall-Handy erreichen“, sagt Betreuer Pascal Kurzawa.

Seit 2017 gibt es diese WG, die auch von der Aktion Mensch unterstützt wird. Jeder Bewohner ist ein Einzelmieter, er hat einen Schlüssel für die Wohnung und sein Zimmer. Für jeden gibt es einen individuellen Hilfeplan, eine Reinigungskraft kommt zudem wöchentlich. Der Putzplan für die Bewohner hängt trotzdem an der Wand, davon sind sie nicht befreit. Sie machen ihre Wäsche selbst, gehen einkaufen, kümmern sich um den Müll. Je nach Fähigkeit werden sie mehr oder weniger dabei unterstützt. Entwicklungsziele sind für jeden definiert.

Brigitte Seidenstücker ist es schwer gefallen, ihren Sohn Tobias ziehen zu lassen. „Mir haben die Leute immer gesagt, dass ich aber an seine Zukunft denken solle“, sagt sie. Bei einem ersten Anmeldetermin habe sie angefangen zu weinen. „Da bin ich stiften gegangen“, erzählt sie. Als später wieder ein Anruf kam, dass ein Platz in einer Einrichtung frei sei, habe sie wieder „geheult wie ein Schlosshund“. Aber Tobias (34) hatte schon mit 18, 19 Jahren – wie fast jeder junge Erwachsene – den Wunsch geäußert auszuziehen. Und die WG ist der perfekte Ort für ihn. Er hat viel gelernt, was zu Hause noch nicht geklappt hat. Die Waschmaschine selbst anzustellen zum Beispiel, sagt er stolz. Ob sich Tobias wohlfühlt? „Der fühlt sich pudelwohl“, sagt Herbert Seidenstücker schmunzelnd. „Als meine Frau in Kur war, hat er sich drei Wochen nicht zu Hause blicken lassen.“ Tobias Eltern finden, es müsste mehr solche Einrichtungen geben. „Viele Behinderte haben ja viel mehr Potenzial“, sagt Brigitte Seidenstücker.

Wohngemeinschaften wie diese sind noch selten. Die meisten geistig Behinderten leben in Wohnstätten, sagt Zotta-Plein, die wenigsten ganz allein. Beim Thema Inklusion hat sich viel getan, sagen die Expertinnen. Doch manches, was sich inklusiv nenne, wie ein Café oder eine Disko, sei in Wahrheit ein Behinderten-Café und eine Behinderten-Disco. „Weil kein nicht Behinderter dorthin kommt“, stellt Zotta-Plein fest. Da müsse sich die Gesellschaft noch entwickeln. Das gelinge nur, wenn Inklusion zur Normalität werde.

Die Bewohner wurden so ausgesucht, dass sie gut zusammenpassen. Das hat bestens geklappt. Die Familien sind in das Konzept eng eingebunden. „Wir haben uns schon im Rohbau getroffen und kennengelernt“, sagt Seidenstücker. Man tauscht sich über eine Whatsapp-Gruppe aus. Wenn jemand zu Besuch kommt, gibt es ein großes Hallo.

Die WG war im vergangenen Jahr mit Betreuern im Urlaub in München. Für Bayern-Fan Andreas ein Traum, weil er sogar die Arena seiner Mannschaft gesehen hat. Nächstes Jahr wollen sie nach Leipzig. Und Silvester werden sie gemeinsam feiern. Andreas weiß auch schon, was sie kochen möchten. Und er verspricht: „Wir machen Party.“ Wie das in einer WG eben so ist.

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