Spaziergang Der Birlinghovener Wald, ganz privat betrachtet

Birlinghoven · Ich bin groß geworden mit ihm. Vom Fenster meines Mädchenzimmers ragt er hinterm Garten meiner Eltern empor, wirft seine Schattenform auf die Blumenbeete, sodass meine Mutter genau planen muss, um in den Sonnenflecken, die er durch sein Blätterkleid fallen lässt, Rosen züchten zu können.

 Der Wald bei Schmerbroich: Ein von Kyrill gefällter Riese

Der Wald bei Schmerbroich: Ein von Kyrill gefällter Riese

Foto: Tina Stommel

Wie nenne ich ihn eigentlich? "Birlinghovener Wald" heißt er. Der Name ist mir fremd. Als ob er Birlinghoven gehören würde! Ich liebe ihn von Schmerbroich aus. Als Kind begann mein Wald am großen Stein, bis dahin führten Siedlungsstraßen, erst vier- (Kinderwagen), dann drei-, dann zweiradtauglich.

Als Frau beginnt er am Pferdeweg, ein enger Trampelpfad voller Brennesseln und duftendem Ginster, der im Schnepfenweg hinterm Haus einer Nachbarin an der Pferdewiese vorbeiführt, die plötzlich keine mehr sein darf: Nach 36 Jahren Gras ausrupfen und von weichen Pferdelippen aus der Hand ziehen lassen hat die Untere Landschaftsbehörde verfügt, eine Koppel mit Schuppen sei "in einem geschützten Landschaftsteil mit besonderer ökologischer Wertigkeit nicht zulässig".

Wir kennen die Pferde beim Namen, haben eines aufwachsen sehen. Was wertig ist, darüber ließe sich lange reden. "Komm, wir gehen in den Wald." Mal sagt es meine Mutter, mal ich. Mal gehen wir zum Reden, mal zum Schweigen, immer zum Gucken, Hören, Riechen hinein. Blühen die Anemonen schon? Ruft der Kuckuck?

Duftet das Gras schon nach Frühling? Unser Weg misst etwa zwei Stunden. Er führt vorbei am Golfplatz von Gut Großenbusch, meist brav am Rande des Grünen, das Green heißt, manchmal auch dreist mitten drüber, wenn kein Golfer in Sicht ist. Früher, als der Hund dabei war, brachte er uns Golfbälle, einige rollen in einer Schublade zu Hause herum.

Das war die Zeit, als der Golfplatz unser Feind war, weil er uns den Kindheitsspazierweg abschnitt. Jetzt ist der Hund zu alt für lange Ausflüge und der Golfplatz ist, naja, schon in Ordnung: Er hat uns einen Weg genommen, aber etliche neue verschafft. Die Sonnenwiese entlang hinein in die erste kleine Schlucht.

Mürbe und verfallen sieht sie mittlerweile aus, die bizarre Wurzelhöhle der einen Fichte. Vor acht Jahren war sie das Zuhause einer Fuchsfamilie. Da trollten plötzlich drei orangefarbene Kinder mit buschigen Schwänzen davor herum, und wir standen still und guckten glücklich zu. Auch wenn die Rehe unsere Wege kreuzen, ist das so: still empfundenes Glück. Wir spazieren, sie spazieren, so fühlt er sich an, der Einklang mit der Natur.

Es kam vor, dass wir überheblich wurden. Die Bäume duzten, uns in unseren Waldschuhen durchs Unterholz wühlten, die Nur-Sonntags-in-den-Wald-Geher auf den Teerwegen verächtlich betrachtend, in den Himmel sahen: Nein, wir brauchen keinen Schirm, das Wetter hält. Dann kam der Wind, und genau da, wo nur Wiese und Strauch sind, kein Baum, kein Dach, kam der Regen dazu.

Klatschte uns in die Kragen, peitschte Brombeerdornen auf die Haut und ließ uns klein und nass nach Hause rennen. Merke: Ein Wald ist ein Wald, der Mensch ist Mensch und glaubt, die Natur nur zu kennen, sicher sein kann er nie. Indes, das Gegenteil ist auch verkehrt: nichts wissen zu wollen, die Natur stempeln zu wollen mit Menschenideen.

Wenn wir zwischendurch unsere Schritte auf einmal hören, wenn ein Stück Teer unseren Laubboden durchschneidet, dann ist sie nicht weit, die Bushaltestelle mitten im Wald. Hier hält kein Bus, natürlich, aber das Betongebilde hat Haltestellencharme, also keinen Charme. Es ist eine von vielen Betonideen im Rahmen des neuen Wegeleitsystems "Grünes C", das kein Mensch aus unserem Wald versteht.

Die Alten mögen sich nicht auf die Betonbänke setzen, zu kalt der Stein und keine Rückenlehne. Die Jungen lachen die Bodenmarkierungen aus - "Guck mal, hier steht 'Rhein', ja, wo isser denn, der Rhein?" Die Bushaltestelle ist natürlich längst nicht mehr grau, sondern graffiti-lila. Wo Beton wächst, sind die Sprayer schnell zur Stelle.

Der Wald lehrt: Was jetzt karg ist, birgt üppiges Grün in sich und süßen Duft, wenn der Sommer dirigiert. Und ein von Orkan Kyrill gefällter Baumriese wird mit der Zeit zur imposanten Naturskulptur, die nicht mehr schreckt, sondern an dieser Stelle zum Markenzeichen wird. So wird auch das graue "Grüne C" mit der Zeit vereinnahmt. Vom Wald, der drüber wegwächst. Von den Menschen, die den Beton links liegen lassen, die Erklärtafeln dafür aufmerksam studieren, wo Wissenswertes zur Renaturierung steht.

Vieles versteht sich aber von selbst, wenn man hinsieht. An kahl geschlagener Stelle spitzen sich die ersten Lärchenkinder aus der Erde, zarte Bäumchen, die dereinst mit tieferen Wurzeln Kyrills Nachfolgern besser trotzen werden als die flach wurzelnden Fichten. Schon wird der Kahlschlag zum sinnigen Plan.

Wir schlagen nicht, stibitzen aber. Im Herbst Vogelbeeren, im Sommer einen Zweig Hartriegel, im Frühling wilden Flieder - der eine alte Fliederbaum hat bestimmt nichts dagegen. Groß und stark wie er ist, kann er ein paar Zweige entbehren. So holen wir den Wald ins Haus. Seinen Duft, seine Form, seine Früchte.

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