Inklusion in Sankt Augustin Mehr Barrieren abbauen in Sankt Augustin

Sankt Augustin · Isabella Praschma-Spitzeck und Horst Ritter sind ehrenamtliche Behindertenbeauftragte der Stadt. Das Duo unterstützt Menschen mit Handicap unter anderem bei Behördengängen und sieht sich als Vermittler und guter Zuhörer.

Für Zimmer 9 braucht es keine lange Wegbeschreibung. Einmal durch den Haupteingang des Sankt Augustiner Rathauses, schräg nach rechts, und schon ist die breite Tür zu sehen. Dahinter haben Isabella Praschma-Spitzeck und Horst Ritter ihr Reich. Die beiden arbeiten als ehrenamtliche Behindertenbeauftragte der Stadt. „Wir sind das am besten auffindbare Zimmer im Rathaus“, betont die 62-jährige Praschma-Spitzeck – und in dieser Aussage schwingt nicht nur Freude, sondern auch etwas Stolz mit. Denn beide können sich noch gut an Zeiten erinnern, in denen Menschen mit Behinderung weniger Aufmerksamkeit gewidmet wurde.

Seit 2007 stehen ihnen und ihren Angehörigen in Sankt Augustin zwei ehrenamtliche Inklusionsbeauftragte zur Seite. Das Ziel: Sie sollen ihre Interessen autark und unbeeinflusst gegenüber Rat und Verwaltung vertreten. Praschma-Spitzeck und die damalige Mülldorfer Grundschullehrerin Gisela Albrecht wurden vor elf Jahren vom Rat ernannt; 2014 übernahm Ritter das Amt von Albrecht.

„Damals waren viele Erwartungen mit dem Amt verbunden“, erinnert sich Praschma-Spitzeck an die Anfangszeit. „Bei den Akteuren und bei Anbietern von Diensten für Menschen mit Behinderung.“ Doch zunächst habe das Amt erst einmal bekannt gemacht werden müssen. Das haben sie inzwischen erreicht: Viele Anfragen kommen bei den beiden an, eine genaue Zahl lasse sich aber schwer festmachen, so der ehemalige Mendener Pfarrer Ritter.

Unterstützungsmöglichkeiten aufzeigen

In den Köpfen der Menschen habe sich ebenfalls einiges verändert. Isabella Praschma-Spitzeck kann sich noch gut an den Spruch „für die paar Behinderten“ erinnern, etwa wenn es um eine Ampel für Blinde ging. „Das ist heute nicht mehr so.“ Viele hätten erkannt, dass man solche Dinge auch für einen mache, der Hilfe benötige – damit er teilhaben könne, so die 62-Jährige. Dennoch glaubt sie, dass einige Menschen noch ähnlich denken. „Aber die wenigstens denken darüber nach, dass es sie morgen schon selbst treffen könnte.“ Immerhin hätten zehn Prozent der Bevölkerung erklärtermaßen eine Schwerbehinderung, sagt Praschma-Spitzeck.

Und die Dunkelziffer – aus Angst vor Stigmatisierung – sei vermutlich noch höher. „Es gibt viele Leute, die Hemmungen haben, etwas für sich in Anspruch zu nehmen“, ergänzt Ritter. Andere wiederum wollten zu viel. „Zum Beispiel den Parkschein. Aber dafür gelten strenge Voraussetzungen.“ Praschma-Spitzeck und Ritter sind Helfer im Alltag, Vermittler und vor allem gute Zuhörer. Wichtig ist ihnen, den Menschen eine realistische Einschätzung ihrer Lage zu geben und Unterstützungsmöglichkeiten aufzuzeigen.

„Ich glaube, in der Regel gehen die Leute auch positiver gestimmt wieder“, sagt Ritter. „Das hat auch seelsorgerischen Charakter, was wir hier machen.“ Dabei sei es für die Ratsuchenden durchaus wichtig, dass die beiden nicht Teil der Verwaltung seien. „Wir können deshalb auch viel zu Widerspruch ermuntern“, so Ritter. Für ihr Engagement zeichnete die Stadt sie 2017 mit dem „Prädikat Ehrenamt“ aus.

Der Wille ist da

Auch ihre eigene Erfahrung bringen beide in die Gespräche ein. Praschma-Spitzecks hat das Downsyndrom; außerdem arbeitete sie in Berlin bei einem Institut, das Wohnungen behindertengerecht umbaut. Ritters Sohn erlitt 1998 durch einen Verkehrsunfall einen Hirnschaden. Danach orientierte der 73-Jährige sich um, arbeitete später als theologischer Vorstand bei der Diakonischen Stiftung Wittekindshof in Bad Oeynhausen, einem Sozialunternehmen für Menschen mit Behinderung. „Man steht vor der Situation und denkt, jetzt bist du völlig allein“, sagt Ritter. Praschma-Spitzeck ergänzt: „Was wir erlebt haben, das schult. Wir haben viel erkämpft.“

Apropos viel erreicht: Wie sieht es in Sankt Augustin aus? „Der Wille ist zweifelsohne da. Aber es ist so: Obwohl Sankt Augustin gut aufgestellt ist, kann da noch sehr viel passieren“, sagt Praschma-Spitzeck. Ein Beispiel für eine fehlerhafte Planung kommt ihr sofort in den Sinn – der neue Kreisel am Parkhaus Huma-West. „Dort führen die Leitstreifen für Blinde mittlerweile auf Gitter zu. Da stehe ich fassungslos davor“, sagt sie.

Sehr froh sind sie die beiden darüber, dass die Marktplatte „nach dem ganzen Hin und Her“ einen Aufzug erhalten soll. Derzeit sind Rollstuhlfahrer auf die umliegenden Gebäude und deren Öffnungszeiten angewiesen. „Wir sind mit der Entwicklung zufrieden“, sagt Praschma-Spitzeck. „Wir waren von Anfang an daran beteiligt.“

Stadt findet kein qualifiziertes Person

Ihre Wunschliste, weitere Hindernisse abzubauen, ist lang: Sie reicht von einer rollstuhlgerechten Umkleidekabine im Freibad bis zu mehr barrierefreien Arztpraxen. Ein besonderes Anliegen sind Ritter und Praschma-Spitzeck barrierefreie Wohnungen. „Das ist eins unserer Hauptprobleme“, sagt die 62-Jährige. Es werde zwar zunehmend dafür gesorgt, dass solche Wohnungen gebaut würden, aber sie seien oft zu teuer. Praschma-Spitzeck: „Wir brauchen mehr bezahlbaren barrierefreien Wohnraum.“ Ein Dauerthema bleibt auch die Umsetzung des Aktionsplans Inklusion, der bereits 2015 verabschiedet worden ist. Das Problem: Die Stadt findet kein qualifiziertes Personal.

Schon oft wurden die Behindertenbeauftragten deshalb vertröstet. Laut dem Beigeordneten Ali Dogan soll mit der Einrichtung einer Stabstelle Integration nun Bewegung in die Sache kommen. Dann soll eine Vollzeit- statt einer Halbtagsstelle ausgeschrieben werden. Dogan erhofft sich davon bessere Chancen, geeignete Fachkräfte zu finden – und eine Beschleunigung des Inklusionsprozesses. Dafür werden sich auch Isabella Praschma-Spitzeck und Horst Ritter weiterhin ehrenamtlich und unermüdlich einsetzen – unter anderem im Sankt Augustiner Rathaus, in Zimmer 9.

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