Auf den Spuren der Vergangenheit Sankt Augustinerin erhält Weltkriegsbriefe ihres Vaters

Sankt Augustin · Christa Voigt kam erst vor wenigen Monaten in den Besitz der letzten Habseligkeiten ihres Vaters, der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in französische Kriegsgefangenschaft geriet. Voigt hatte ihren Vater nie kennengelernt.

 Die Sankt Augustinerin Christa Voigt hat Briefe und letzte Habseligkeiten ihres 1945 in französischer Gefangenschaft gestorbenen Vaters aufbewahrt, hier das Soldbuch und Fotos des Vaters.

Die Sankt Augustinerin Christa Voigt hat Briefe und letzte Habseligkeiten ihres 1945 in französischer Gefangenschaft gestorbenen Vaters aufbewahrt, hier das Soldbuch und Fotos des Vaters.

Foto: Axel Vogel

Die Blätter, die Christa Voigt in den Händen hält, sind gelblich-ausgeblichen und der Bleistift darauf ist blass. Die Sankt Augustinerin behandelt die Briefe, die vor über 70 Jahren geschrieben wurden, wie kleine Schätze. Der Autor des Briefes war ihr Vater, den das Ende des Zweiten Weltkrieges nach Frankreich verschlagen hatte, wo er in Gefangenschaft geriet, und den dort nun der Hunger quälte. Ausgerechnet ihm war das widerfahren, dem gestandenen Landwirt aus dem schlesischen Riesengebirge, das heute zu Polen gehört.

Anfang 1945 muss er die Mutter sogar fast schon flehentlich in seinem letzten Brief um „haltbares Gebäck, geröstetes Brot und etwas Speck“ bitten. Das Geschriebene berührt Christa Voigt zutiefst. Ihren Vater Franz Sindermann hat sie nie gesehen. Sie war noch kein Jahr alt, als er am 22. Januar 1945 im französischen Castres starb.

Erst 73 Jahre nach seinem Tod kam die 74 Jahre alte Christa Voigt vor wenigen Monaten in den Besitz der letzten Habseligkeiten von Franz Sindermann – und damit ihrem Vater erstmals ungewohnt nah: Neben einer Reihe von Briefen beflügeln ein Soldbuch mit Fotos, seine Geldbörse, Rasierpinsel, Medaillen sowie ein Rosenkranz, und eine Taschenuhr Fantasie und Seele. Diesen kleinen Schatz hatte bislang der Bruder gehütet, zu dem Christa Voigt kein sonderlich gutes Verhältnis unterhielt. Nun war er vor einem Jahr gestorben.

Mit dieser sehr persönlichen Erbschaft in Händen läuft nun vor dem inneren Auge der Schwester nochmals jene von Krieg, Tod und Vertreibung belastete Familiengeschichte ab, fast schon wie ein Film. Sie begibt sich auf Zeitreise in eine für sie traumatische Kindheit und Jugend, die nachweislich viele Kriegskinder erleben mussten, für die es damals aber keinerlei psychologische Hilfsangebote gab. Trotzdem hat Christa Voigt ihr Schicksal aus eigener Kraft gemeistert und daher will sie mit ihren Lebensweg auch anderen Menschen Mut machen.

Im Kuhstall des Bürgermeisters einquartiert

Seit dem Tod des Vaters musste seine Frau Hedwig mit den drei Kindern, darunter Tochter Christa, die gerade einmal sechs Monate alt war, alleine auf dem Hof klar kommen. Kurze Zeit später wurde die Familie vertrieben. Es begann eine Odyssee zu Fuß, auf dem Pferdewagen und in Viehwaggons, die in Brüllingsen im Kreis Soest endete. Dort blieb die Familie zehn Jahre – für Christa Voigt begann eine zutiefst bedrückende, teils verstörende Zeit.

Das lag vor allem daran, „das uns Flüchtlinge damals keiner haben wollte“, so Voigt. Vor allem fehlte es an Wohnraum. „Zunächst wurden wir in den Kuhstall des Bürgermeisters einquartiert.“ Dann bekam die Familie zwei Zimmer zugewiesen. Was Christa Voigt als besonders schlimm empfand: „Es gab zu Hause keine herzhafte Freude, was vor allem an meiner Mutter lag.“

Die litt still unter ihrem Schicksal, gleichzeitig den Mann und die geliebte Heimat verloren zu haben. Das Schicksal des Vater wurde totgeschwiegen bis zu jenem Tag 1950, als mit einem Mal dieses Päckchen auf dem Küchentisch lag. „Es waren die letzten Habseligkeiten meines Vater aus der Gefangenschaft darin.“ Jene Dinge, die Christa Voigt inzwischen in Händen hält.

Die Stimmung blieb weiterhin freudlos. Die Strenge der Mutter hatte auch damit zu tun, so erklärt es sich die Tochter heute, dass sie als Ernährerin der Familie schwer schuften musste. Christa Voigt litt unter den Anfeindungen ihres Klassenlehrers und den unsittlichen Übergriffen des Bauernsohns. Ob ihre Mutter davon etwas mitbekommen hat, weiß sie nicht. „Meine Mutter war in ihrer eigenen Gedankenwelt gefangen.“

Das belastete Verhältnis zur Mutter wendete sich auch nicht zum Besseren, als die Familie 1957 zu Verwandten nach Wewelsburg bei Paderborn zog. Vielmehr litt Christa Voigt derweil unter einer Reihe von Störungen wie Essstörungen, Zwängen und Ängsten. Sie wollte nur noch weg von Zuhause.

Familie half Schicksal zu bewältigen

Mit 23 Jahren folgt sie einer Freundin ins Rheinland. Sie besucht die Abendschule, bildet sich zur Erzieherin fort und lernt 1969 ihren Mann kennen. Das Paar heiratet, bekommt vier Kindern und lässt sich später in Sankt Augustin nieder. Es war ihre eigene, neu-gegründete Familie, die ihr half ihr Schicksal zu bewältigen.

Dass sie sich heute versöhnt mit ihrem Familienschicksal fühlt, liegt auch an einem späten, sehr persönlichen Erlebnis in Sachen Völkerverständigung. Eine US-Studentin, Deborah aus Hawai, hatte vor 30 Jahren einen Sprachaufenthalt bei Familie Voigt verbracht. Der Kontakt nach Sankt Augustin riss nie ab, auch nicht, als sie den französischen Matrosen Erick geheiratet hatte. Zusammen mit ihm besuchte die Amerikanerin vor zwei Jahren Familie Voigt. Dort erfuhr sie von der Geschichte des in Frankreich gestorbenen Vaters.

Das Paar besuchte den Deutschen Soldatenfriedhof „Dagneux“ und fand dort das Grab. Zudem war es Erick gelungen, in französischen Archiven die Umstände der Gefangennahme des Vaters zu recherchieren: 700 Männer waren im September 1944 im Ort Mazamet gefangen genommen worden, darunter Franz Sindermann. „Es berührt mich eigenartig“, so Christa Voigt, „dass der Sohn von früheren Feinden sich die große Mühe machte, Nachforschungen bei Behörden über ebenfalls ehemalige Feinde zu machen.“

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