Interview mit Sankt Augustiner Sozialdezernent „Vieles ist mit der heißen Nadel gestrickt“

Sankt Augustin · Besonders viele Infektionsfälle, mehr Corona-Tote als andere Kreiskommunen: Sankt Augustin sticht in diesen Tagen hervor. Der Beigeordnete Ali Dogan, Leiter des Krisenstabs, spricht über die besonderen Herausforderungen in der Pandemie-Situation. Dazu gehören auch die aktuellen Vorgaben des Landes für die Schulen.

 Im Sankt Augustiner Seniorenheim St. Monika gibt es zahlreiche Corona-Fälle. Ostern wurden Bewohner ins Krankenhaus gebracht.

Im Sankt Augustiner Seniorenheim St. Monika gibt es zahlreiche Corona-Fälle. Ostern wurden Bewohner ins Krankenhaus gebracht.

Foto: Peter Kölschbach

Stand Montagabend verzeichnet Sankt Augustin 136 bestätigte Corona-Infektionen, davon 60 Genesene, 14 Tote, 62 aktuelle Fälle. Das sind die meisten Infektionen im Rhein-Sieg-Kreis. Ist das nur mit den Infektionen im Altenheim St. Monika zu erklären?

Ali Dogan: Definitiv. Wenn man sich die Zahlen im St. Monika anschaut, dann wird das klar: Zwölf der 14 Todesfälle in Sankt Augustin kommen aus dem Altenheim. Das alleine zeigt ja, dass da die Vehemenz besonders groß ist. Auch bei den betroffenen Mitarbeitern und Bewohnern ist St. Monika der düstere Spitzenreiter. Es sind fast 50 Bewohner und etwa 35 Pflegekräfte, die infiziert worden sind. Von den Pflegekräften taucht aber nur ein geringer Anteil in der Statistik auf.

Weil nur jene in die Corona-Statistik aufgenommen werden, die auch in Sankt Augustin gemeldet sind.

Dogan: Genau. Und wenn Sie alle betroffenen Fälle aus dem Altenheim rausrechnen, dann werden Sie sehen, dass wir insgesamt eine unterdurchschnittliche Infektionsrate haben.

Was ist da im St. Monika schiefgelaufen?

Dogan: Das vermag ich nicht zu sagen. Wir haben die erste Meldung in der Nacht zum 1. April bekommen und sind unmittelbar tätig geworden. Die ersten Symptome tauchten wohl schon am 28. März auf. Die Betreiberin des Hauses, die CBT-Caritas-Betriebsführungs- und Trägergesellschaft mbH, hat uns dann versichert, dass sie sofort alle notwendigen Maßnahmen getroffen habe. Die Mitarbeiter haben dann unter Vollschutz gearbeitet.

Im Rhein-Sieg-Kreis gibt es rund 120 solcher Einrichtungen. Das, was in Sankt Augustin geschehen ist, ist einzigartig. Wie kommt’s also?

Dogan: Sie haben recht. Solch einen Verlauf hat es glücklicherweise nicht in jeder Gemeinschaftseinrichtung gegeben. Aber die Infektionsgefahr ist überall groß, wo es Gemeinschaftsräume gibt. Dennoch ist das, was im St. Monika geschehen ist, ein Einzelfall.

Ist das Gegenstand einer näheren Betrachtung oder Untersuchung?

Dogan: Das ist Sache des Kreisgesundheitsamts und der Heimaufsicht.

Wie sieht es denn derzeit in den Flüchtlingsunterkünften im Stadtgebiet aus?

Dogan: Da haben wir zum Glück keinen einzigen Fall. Es gab mal Verdachtsfälle, die aber nach Testung negativ waren.

Wie kann die Ausbreitung des Virus in „geschlossenen Systemen“, wie Kreisgesundheitsamtsleiter Rainer Meilicke es nennt, verhindert werden?

Dogan: Wir haben dieses Szenario schon ganz früh für uns durchgespielt. Unser Konzept sieht so aus: Wenn es in einer Gemeinschaftsunterkunft einen positiv bestätigten Corona-Fall gibt, werden wir die Person oder die ganze betroffene Familie in separate Quarantäne bringen.

Also nicht in der Unterkunft?

Dogan: Nein, an einem separaten Ort. Aber wir werden zusätzlich auch die ganze Gemeinschaftsunterkunft in Quarantäne stellen, weil wir davon ausgehen, dass alle Bewohner sogenannte KP1-Fälle sind, sie also in direktem Kontakt zu den Betroffenen standen. So können Sie bei einer Massentestung die Unterkunft wieder freigeben, wenn die Ergebnisse negativ ausfallen. Wir wollen verhindern, dass sich die Krankheit weiterverbreitet, wenn man die Infizierten in der Unterkunft belässt.

Sie sind Leiter des Corona-Krisenstabs in Sankt Augustin. Wie haben Sie die letzten Wochen mit Ihrem Team erlebt? Was waren die größten Schwierigkeiten?

Dogan: Zunächst einmal: Ich bin sehr dankbar, dass ich so ein tolles Team habe. Wir haben ja schon vor Jahren den sogenannten Stab für außergewöhnliche Ereignisse (SAE) gebildet. Bürgermeister Klaus Schumacher ist der strategische Leiter, ich der operative. Wir haben Anfang März das erste Mal getagt, seit dem 16. März treffen wir uns täglich. Dabei stehen wir praktisch permanent auf Abruf, und das ist natürlich eine Herausforderung. Ich denke, dass wir in diesen Krisenzeiten bewiesen haben, dass die öffentliche Hand handlungsfähig ist und schnell auf neue Herausforderungen reagieren kann.

Haben Sie genug Leute beispielsweise im Ordnungsamt?

Dogan: Tatsächlich haben wir in unserem Außendienst des Ordnungsamts für eine solche Pandemie zu wenig Mitarbeiter. Deshalb haben wir in der Verwaltung einen Rundbrief verschickt, um nach Freiwilligen zu suchen. 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben sich daraufhin bereit erklärt, auch an Wochenenden zu patrouillieren. So konnten wir einen Drei-Schicht-Betrieb gewährleisten.

Wie sehen Sie die von der Landesregierung beschlossene Lockerung der Corona-Beschränkungen? Was bedeutet das für eine Kommune wie Sankt Augustin? Können da auch die allgemeinen Kontrollen durch das Ordnungsamt jetzt nachlassen?

Dogan: Im Gegenteil. Ich sehe das aus zwei Perspektiven: Wirtschaftlich gesehen, müssen wir die Unternehmen unterstützen. Andererseits befürchte ich, dass wir die Erfolge, die wir bei der Eindämmung der Infektion gewonnen haben, wieder einbüßen.

Am ersten Tag der Öffnung sah man schon volle Innenstädte und Schlangen vor den Geschäften. Wie beurteilen Sie das aus Sicht des Gesundheitsschutzes?

Dogan: Wir haben nach der ersten Sichtung etwa bei Huma den Eindruck gewonnen, dass das alles in geregelten Maßnahmen abläuft. Aber das war jetzt ein Montag und der erste Tag nach den Osterferien. Schauen wir mal, wie es an diesem Samstag wird und vor allem am übernächsten Samstag, wenn die Menschen ihr Gehalt auf dem Konto haben. Das bleibt also abzuwarten, aber wir werden gewappnet sein.

Haben Sie Lücken im System erkannt?

Dogan: Ja, vieles ist meiner Meinung nach mit der heißen Nadel gestrickt und nicht nachvollziehbar.

Wie zum Beispiel die Obergrenze bei Geschäften von 800 Quadratmetern?

Dogan: Für mich macht diese Regelung keinen Sinn. Das ist eine willkürliche Zahl. Man hätte auch 600 oder 1500 Quadratmeter wählen können. Ich sehe den Sinn darin nicht. Maßgeblicher ist doch die Anzahl der Kunden pro einer gewissen Quadratmetergröße Verkaufsfläche. Für uns bedeutet das nur mehr Arbeit, weil wir dadurch noch mehr kontrollieren müssen.

Was ist sonst noch ein Problem?

Dogan: In dem Erlass heißt es beispielsweise, dass das Essen innerhalb von Shopping-Malls untersagt ist und die Menschen ihren Imbiss 50 Meter von dem Stand entfernt verzehren dürfen. Also holen sich die Kunden ihr Essen und stellen sich direkt vor die Tür. Und dort bilden sich dann Menschentrauben. Nach der Rechtslage ist das erstmal erlaubt.

Und nun?

Dogan: Wir sind jetzt im Gespräch mit dem Center-Management und dem Rhein-Sieg-Kreis und wollen, dass die 50 Meter-Grenze erst ab Eingang zu Huma beginnt.

Meinen Sie, dass diese Lockerungsdiskussion zu mehr Leichtfertigkeit bei den Menschen führt?

Dogan: Das glaube ich definitiv. Wir sind ja lange nicht über den Berg, wie die Bundeskanzlerin zurecht sagt.

Die Lehrer bereiten die langsame Öffnung der Schulen vor. Was hören Sie von denen? Welche Maßnahmen müssen Sie jetzt vonseiten der Stadt umsetzen?

Dogan: Die Schulen und wir haben zurzeit jede Menge zu tun, um das alles umzusetzen. Das Problem ist, dass nicht immer klar ist, was das Land von uns fordert.

Was denn zum Beispiel?

Dogan: Bei der Hygiene. Bis Freitagabend hieß es aus dem Landesschulministerium, dass Handdesinfektionsmittel nicht nötig seien. Im Gegenteil, es gab sogar Hinweise darauf, dass Desinfektionsmittel gefährliche Substanzen beinhalte und man das nicht frei zugänglich machen sollte. Wasser und Seife reiche vollkommen. Dann kam eine Mail, in der erklärt wurde, vor den Zugängen in die Klassen und Prüfungsräume sowie zusätzlich in den Fluren sollen Desinfektionsspender installiert werden. Nun ist auch nicht klar, was das Land hier wirklich will.

Kriegen Sie das denn bis Mittwoch hin?

Dogan: Nicht, wenn es eine noch breitere Öffnung der Schulen geben sollte. Jetzt geht es erstmal um die zehnten Klassen an fünf Schulen und drei Abiturjahrgänge. Das schaffen wir. Ab 4. Mai kommen dann weitere Jahrgänge hinzu. Auch da müssen wir selektiv vorgehen und lediglich die Klassen bestücken, die Unterricht haben werden. Mehr ist aber nicht drin. Ich bin schon darüber verwundert, dass man von einer Woche zur nächsten beschließt, die Schulen zu öffnen – wenn auch nur teilweise, aber eben mit zusätzlichen und unerwarteten Anforderungen.

Hätte man damit nicht rechnen können?

Dogan: Wir sind ja schon seit Ausbruch der Pandemie mit Reinigung und Ausstattung der Schulen beschäftigt. Wir sind als Schulträger schon davon ausgegangen, dass die Schulschließungen länger dauern würden. Und das war ja bis zum 15. April auch so kommuniziert worden.

Das Robert-Koch-Institut sagt, dass das Virus bis zu sechs Tage auf bestimmten Oberflächen infektiös bleibt. Daraus muss man ja schließen, dass eine intensive und häufige Reinigung der Schulen notwendig sein wird. Ist das sichergestellt?

Dogan: Nach unserem Arbeitsplan müssen Waschräume und WCs sowie die tatsächlich genutzten Arbeitsräume, Fußböden und Kontaktflächen, also Tische, Handgriffe und Handläufe gereinigt werden.

Mehrmals am Tag?

Dogan: Wir müssen uns ja auch die Verträge mit den Reinigungsfirmen und deren Kapazitäten anschauen. Wir haben zunächst einmal tägliche Reinigungen vorgesehen. Aber Siegburg und andere Nachbarkommunen planen einen intensiveren Modus mit konstanter Anwesenheit von Reinigungskräften, die auch in den Pausen wischen. Aber wie gesagt, ich weiß gar nicht, ob die Kapazitäten überhaupt da sind. Außerdem sind das enorme Kosten. Ich kritisiere eben diese Entscheidungen der Landesregierung, die die Kommunen faktisch vor Ort umsetzen müssen, egal, ob das umsetzbar ist oder nicht.

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