Zeitzeugin erinnert sich Die Siegburger Wahnbachtalsperre wird 60 Jahre alt

Siegburg · Am 28. April 1958 ist die Wahnbachtalsperre in Siegburg in Betrieb gegangen. Erika Potratz und ihre Familie mussten für deren Bau umsiedeln. 60 Jahre später blickt sie zurück.

Zeitzeugin erinnert sich: Die Siegburger Wahnbachtalsperre wird 60 Jahre alt
Foto: MEIKE BÖSCHEMEYER/MEIKE BOESCHEMEYER

Erika Potratz weiß die Stelle genau auszumachen. Unterhalb von Pinn hat er gelegen, der Petershof, auf dem sie geboren wurde und einen Teil ihrer Kindheit verbracht hat. Inzwischen liegen dessen Grundmauern unter bis zu 42 Millionen Kubikmetern Wasser verborgen. Ihre Familie war die erste, die Mitte der 1950er Jahre ihren landwirtschaftlichen Betrieb im Wahnbachtal verlassen und an anderer Stelle neu anfangen musste. Denn im Tal begannen die Vorbereitungen für den Bau der Talsperre. Die nahm der 1953 gegründete Wahnbachtalsperrenverband am 28. April 1958 in Betrieb.

„Ich habe von Säugling an das gute Wahnbachwasser genossen“, sagt Erika Potratz 60 Jahre später. Schon auf dem Petershof haben ihre Großeltern und Eltern das Wasser aus dem Wahnbach genutzt und für den Hausgebrauch abgekocht. Der Gedanke, im Tal einen Stausee zu errichten, war bereits in der Welt, als ihr Großvater 1942 den Hof gepachtet und zusammen mit ihren Eltern, Jan und Johanna de Vries, betrieben hat. Anfang der 1920er Jahre plante die preußische Landesregierung den Bau eines Dammes an eben der Stelle, an der sich heute das 52,20 Meter hohe Bauwerk befindet. Deutlich kleiner und zur Energiegewinnung. Ein Plan, der nie realisiert wurde. Dafür begann im selben Jahrzehnt der Bau der Wahnbachtalstraße, die Siegburg mit Much verbinden und den Tourismus ankurbeln sollte. Und die 1957 auf einer Länge von 6,3 Kilometern auf dem Grund der Wahnbachtalsperre versank.

Familie sah ihre Existenz bedroht

So sieht die Wahnbachtalsperre ohne Wasser aus
11 Bilder

So sieht die Wahnbachtalsperre ohne Wasser aus

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„Es war eine schöne Kindheit“, erinnert sich Potratz. Auch wenn der nächste Nachbar zwei Kilometer entfernt wohnte, seien sie und ihre vier Jahre jüngere Schwester nie einsam gewesen. „Wir bekamen viel Besuch“, sagt die heute 73-Jährige. Und es gab die Tiere, Blumenwiesen, Stoppelfelder und den Wahnbach. Von den immer konkreter werdenden Plänen zum Bau der Talsperre habe ihre Familie zunächst über Briefträger, Bäcker und Milchabholer gehört, die Neuigkeiten ins Tal brachten.

Das Trinkwasser in der Region reichte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr aus. Dem traten der damalige Siegkreis, der Landkreis Bonn, die Stadt Siegburg, die Stadt Bonn und die Siegburger Phrixwerke 1953 mit der Gründung des Wahnbachtalsperrenverbandes (WTV) entgegen. Im Anschluss ging alles schnell. Potratz erinnert sich an Landvermesser und Arbeiter, die den Wald rodeten. Da, wo vorher Viehherden weideten, seien auf einmal schwere Bagger und Lastwagen unterwegs gewesen. Im September 1955 begann der Bau der Talsperre mit dem Aufschütten von einer Million Kubikmeter Gestein.

Binnen zehn Monaten stand der Damm, an dem bis zu 840 Menschen arbeiteten. Die Familie de Vries sah ihre Existenz bedroht. „Mein Großvater wollte nicht umsiedeln. Als die Planierraupen kamen, wurde er krank und starb“, sagt Potratz. Wie ihrer Familie ging es den Bewohnern der Weiler Lüttersmühle, Hillenbach, Ölmühle und Hoffnungsthaler Mühle. Rund 20 Menschen verloren ihre Anwesen im Tal, siedelten um und erhielten dafür eine Entschädigung vom WTV. Die gab es auch für die rund 2000 Besitzer von 3000 Grundstücken im Tal.

„Mein Vater baute den Dachstuhl des Gebäudes ab und auf unser neues Haus in Kaldauen wieder auf“, sagt Potratz. Die Verbundenheit zum Wahnbachtal blieb. So arbeiteten Jan und Johanna de Vries später für den WTV – und Erika Potratz kümmert sich dort bis heute um die Öffentlichkeitsarbeit. „Wenn ich von Pinn aus auf den Stausee blicke, taucht der Petershof für mich wieder auf.“

Talsperre für 800.000 Menschen

Etwa ein halbes Jahr hat es gebraucht, bis die Talsperre vollgelaufen war. Am 20. Dezember 1956 schloss der WTV die Absperrklappen im Damm, und der Wahnbach begann, den künstlichen See zu speisen. Auf den Siegelsknippen entstand die Trinkwasseraufbereitungsanlage. Am 28. April 1958 wurde die Versorgungsanlage in einer Feierstunde in Betrieb genommen. Walter Debertshäuser übernahm die erste Frühschicht, füllte die Hochbehälter – das aufbereitete Wasser reichte für den ganzen Tag. „Wir hatten ja noch keine Abnehmer“, zitiert der WTV ihn in seiner Chronik.

Das hat sich schnell geändert. Heute versorgt der WTV rund 800.000 Einwohner in Bonn, im Rhein-Sieg-Kreis und im Kreis Ahrweiler. 28 der jährlich aufbereiteten 42 Millionen Kubikmeter Trink-wasser kommen aus der Talsperre, der Rest aus Grundwasserbrunnen im Hennefer Siegbogen und in Sankt Augustin-Meindorf, wo die zweite Trinkwasseraufbereitungsanlage des WTV steht. Vor zehn Jahren war Potratz dem Petershof noch einmal nah. 2008 ließ der WTV die Staumauer sanieren. Dazu musste die Talsperre Wasser lassen – 34 Millionen Kubikmeter.

Ihr Spiegel sank und ließ einst versunkene Überreste alter Häuser, Straßen und Brücken wieder auftauchen. Für WTV-Geschäftsführer Norbert Eckschlag, der im Oktober nach 29 Jahren im Verband, davon 17 als Geschäftsführer, in den Ruhestand geht, ein aufregendes Erlebnis. Erika Potratz ist unter den Zeitzeugen, die in „ihr“ Tal zurückkehren dürfen. Ein bewegender Moment – und, so sagt sie, „wie ein Besuch bei guten Freunden.“

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