Ausstellung im Siegburger Stadtmuseum Dorissa Lem erzeugt einen Mehrklang verschiedener Künste

Siegburg · "Bild-Hauerei" zwischen Pilgererfahrung und Attacke auf die Tischlerplatte: Unter dem Titel „Polyphonie“ zeigt die Kölner Künstlerin Dorissa Lem im Siegburger Stadtmuseum Vielschichtiges auf Papier, Tischlerplatten und in Holz.

 Großformatige Tischlerplatten bearbeitet Dorissa Lem mit dem Spachtel zur Musik zeitgenössischer Komponisten.

Großformatige Tischlerplatten bearbeitet Dorissa Lem mit dem Spachtel zur Musik zeitgenössischer Komponisten.

Foto: Susanne Haase-Mühlbauer

Unter „Polyphonie“ versteht man wörtlich übersetzt den „Mehrklang“. Komponisten, die sich der polyphonen Kompositionstechnik bedienen, behandeln alle Stimmen für sich betrachtet selbstständig und gleichwertig. Alles, was klingt, hat somit einen Eigenwert. Jede einzelne Stimme zählt und ist nicht – wie bei der Homophonie – der Oberstimme untergeordnet. Mit „Polyphonie“ ist nun auch eine Ausstellung überschrieben, die am Sonntag im Siegburger Stadtmuseum eröffnet wird.

Wer nun aber Klänge erwartet, wird zunächst einmal überrascht sein, dass der Titel eine überaus vielschichtige Ausstellung von Bildern, Installationen und Skulpturen der Kölner Künstlerin Dorissa Lem bezeichnet. Tatsächlich aber hat die Kölnerin dabei ganz konkrete Klänge im Ohr und sagt auch über den Entstehungsprozess ihrer Bilder: „Ich erzeuge Klänge.“

Musik, Literatur, Malerei und Bildhauerei treffen bei Dorissa Lem aufeinander. Die künstlerischen Eindrücke vermischen sich, werden transformiert und lassen Eigenes neu entstehen. Ihre Kunst findet sich auf Papier, Tischlerplatten und auch in Objekten aus Nussbaum-, Ahorn oder Eichen-Holz. Sie bezeichnet sich selber mit einem Augenzwinkern auch als „Bild-Hauerin“.

Zeitgenössische Musik als Inspiration

„Lange Jahre hätte ich mein Bett in der Kölner Philharmonie aufbauen können“, schwärmt Dorissa Lem, die sich als leidenschaftliche Zuhörerin beschreibt. Doch sind es nicht die eher homophonen Klänge, die die Künstlerin inspirieren. „Ich liebe zwar Brahms und die Romantik“, sagt Lem. „Aber für meine Kunst arbeite ich am liebsten mit zeitgenössischer Musik.“

Dieses Arbeiten gestaltet sich bei Lem sehr vielschichtig. Mit dem Fine Liner auf Papier etwa entwickelt sie „Blindzeichnungen zur Musik“. Mit geschlossenen Augen setzt sie dabei Klang und Rhythmus in malerische Bewegung um. Die Ergebnisse wirken auf den Betrachter harmonisch und geschmeidig, erinnern an verdichtete, mehrfach übereinander gelegte Schwingungskurven.

In ihrem „KunstRaum“ in Köln-Ehrenfeld treffen die Künste und Künstler aufeinander. Dort hört Lem Minimal Music von Philip Glass, auch Spätromantisches aus der Feder von Bartok und Schostakowitch, Ostergesänge der russisch-orthodoxen Liturgie und entwickelt freie Gemälde bei Ur- und Erstaufführungen zeitgenössischer Musik. „Im Dialog 3“ und „Im Dialog 4“ sind zwei „Blind-Live-Zeichnungen“, die 2017 zum Cello-Spiel der Solo-Cellistin des Gürzenich-Orchesters Ulrike Schäfer entstanden. Ur- und erstaufgeführt wurden dabei die „Five meditations für cello and tambura“ von Mike Herting und das „Requiem for a solo cello“ von Maurizio Bignone – ein polyphones Gesamtkunstwerk entstand vor den Augen und Ohren der Besucher.

Musik in Kunst umsetzen

Klänge und Rhythmen lässt Lem auf sich wirken und versteht sich – bei der Umsetzung von Musik in Kunst – als Filter oder Medium. Die Tuben mit Ölfarbe schraubt sie zuvor bereits auf, um spontan zugreifen zu können und die Farbe zum Klang direkt zur Hand zu haben. Mit dem Maurer-Spachtel auf 19 Millimeter starken Tischlerplatten attackiert sie dann den Untergrund. Es entstehen Rillen, Risse, Einkerbungen und Zeichen der Zerstörung. „Als ich mich vor ein paar Jahren selber in der Krise befand, war ich wie im Urzustand“, sagt Lem. „Da habe ich entdeckt, dass der Akt der Zerstörung eine Verwandlung bewirken kann.“

Heute arbeitet die Künstlerin weiterhin mit verschieden breiten Spachteln, mit Bildhauer-Werkzeugen und verzichtet auf digitale Bildbearbeitung und jegliche Maschinen. Über die Krise hat sie ihren Weg in der Kunst gefunden, auch wenn sie heute längst „nicht mehr wütend“ sei. Nach einer 55 Kilometer langen und 5700 Meter hohen Pilgererfahrung bei einer Pilgerreise nach Tibet und Kathmandu (2005) entstanden ihre „kleinen Tempel“ aus Nussbaum-Holz. Die Holzskulpturen sind nicht eckig und kantig, denn sie orientieren sich bei Lem nicht an der Architektur, sondern an der Pilgererfahrung: „Man umrundet den Heiligen Berg“, sagt Lem, die sich beim Gestaltungsprozess ihres kleinen Tempels schließlich auch an das „1. Sonett an Orpheus“ von Rainer Maria Rilke erinnert fühlte. „Da schufst Du ihnen Tempel im Gehör“ heißt es in der letzten Zeile. So schließe sich der Kreis zwischen Bildhauerei, Literatur und Musik.

Die Ausstellung „Polyphonie“ von Dorissa Lem wird eröffnet am Sonntag, 11. Juli, um 11.30 Uhr. Die Werke sind bis 22. August im Stadtmuseum, Markt 46, zu sehen. Am 31. Juli gibt es ab 15 Uhr ein Künstlergespräch. Anmeldung unter ☏ 0 22 41/102 74 10.

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