Zeitzeugen aus Siegburg erinnern sich Drei Tage im April

SIEGBURG · Die Befreier kamen im Morgengrauen. Es war der 9. April 1945, etwa 6 Uhr, als die Soldaten des 303. Regiments der 97. amerikanischen Infanteriedivision die Sieg bei Mülldorf überquerten. Nach wochenlangen Kämpfen machten sie sich mit Stahlbooten auf, um die Kreisstadt einzunehmen.

 Die letzten Kriegstage: US-Soldaten auf der Wilhelmstraße.

Die letzten Kriegstage: US-Soldaten auf der Wilhelmstraße.

Foto: Infanteriedivision

Bereits am 21. März hatten sie das Siegufer erreicht und Siegburg auf der gegenüberliegen Seite unter Artilleriebeschuss genommen. Denn dort leisteten die Nazis bis zuletzt Widerstand. Dann die drei entscheidenden Tage im April: Am 8. April eröffneten die Amerikaner ein Trommelfeuer, am 9. April marschierten sie ein, und am 10. April waren die Kämpfe beendet.

Wie erlebten die Siegburger diese Zeit? Sie lebten über Wochen und Monate in ihren Kellern, denn die Stadt war seit Ende 1944 andauernd Ziel von Tieffliegern und Jagdbomberangriffen. Schwer beschädigt wurde dabei auch der elterliche Hof von Karl-Heinz Neifer in Siegburg-Zange, das damals noch sehr ländlich geprägt war. "Von unseren fünf Kühen kamen bei den Angriffen vier ums Leben", erinnert sich Karl-Heinz Neifer, damals 16 und heute 86 Jahre alt. Die fünfte Kuh - sie hießt Sternchen - wurde verwundet.

Die Not machte erfinderisch: Neifers Vater, der auch Drogist war, versuchte sich als Veterinär. Er versorgte die Wunden des Tieres mit Wasserstoffsuperoxid und lbora Wund- und Kindercreme. Tatsächlich war die Kuh bald wieder wohlauf und brachte sogar noch ein Kalb zur Welt. "Sie gab nachher eine Milchmenge von 30 Litern, was sehr viel war", berichtet Neifer. Er besitzt heute noch die Flasche, in dem das Wasserstoffsuperoxid abgefüllt war.

An den Einmarsch der Amerikaner am 9. April 1945 kann sich der 86-Jährige präzise erinnern. Er brachte damals eine Botschaft am Haus an: "A hearty welcome to the american soldiers. You are the liberators of Germany and our friends" stand darauf - "Ein herzliches Willkommen den amerikanischen Soldaten. Ihr seid die Befreier Deutschlands und unsere Freunde."

Dennoch nahmen die Amerikaner Neifers kranken Vater kurzerhand mit. Nach zwei Tagen in Gewahrsam in Pützchen kam er zurück. "Er war wohl verdächtig, weil in unserem Garten ein Gewehr lag. Ein deutscher Soldat hatte es auf dem Rückzug hinterlassen."

Das Leben im Keller hat Gert Schneider nie vergessen. Der 84-Jährige lebt heute noch in seinem Elternhaus am Markt, wo der wochenlange Artilleriebeschuss mehrere Gebäude dem Erdboden gleichmachte. "Am 26. März wurde auch unser Haus getroffen und in Brand gesetzt", berichtet Gert Schneider.

Die ganze Häuserreihe vom Markt 11 bis zur Goldenen Ecke wurde zerstört. "Alles brannte lichterloh", sagt der Siegburger. Sein Vater war bei der Feuerwehr, doch die durfte nicht löschen: "Die Nazis hinderten sie daran. Siegburg sollte als Trümmerfeld hinterlassen werden."

An jenem 9. April 1945 kauerte Schneider mit seinen Eltern und seiner Schwester im Gewölbekeller unter der Häuserruine am Markt. "Das Fenster war durch eine Eisenplatte abgedeckt. Doch durch Granatsplitter war sie durchlöchert, so dass ich rausgucken konnte", erzählt Gert Schneider. So sah er die amerikanischen Soldaten, wie sie in gebückter Haltung und mit ihren Gewehren im Anschlag über den Markt huschten, in Richtung Kaiserstraße. "Es wurde aber nicht ein einziger Schuss abgegeben."

Die Siegburgerin Ursula Gass, geborene Römer, die nahe der Annokirche aufgewachsen ist, verbachte mit ihrer Familie die letzten Kriegsmonate auf dem Mühlenhof in Kaldauen. Dort versteckten sie ihren Bruder, einen fahnenflüchtigen Seekadetten - in einem Schrank. Als die Amerikaner kamen, sei die Erleichterung groß gewesen, erinnert sich Ursula Gass: "Als Kinder sind wir den Soldaten entgegengelaufen", sagt die 81-Jährige. Mit ein paar Brocken Englisch hätten sie die GIs angesprochen: "How many watches do you have?" Das sollte heißen: "Wie viel Uhr ist es?"

Doch nicht überall lief es so reibungslos. Noch am 10. April dauerten die Gefechte an. Heckenschützen der Nazis schossen auf alles, was sich bewegte - sogar auf Siegburger, die bei den anrückenden Amerikanern Schutz suchten. Auf diese Weise starben Peter Zerwas, Hausmeister des Kolpinghauses, und Hilarius Schmitz.

Johanna Becker (geborene Nöfer), deren Eltern einen Lebensmittelladen an der Ecke Weierstraße/Kaiserstraße betrieben, hat ähnliche Szenen vor Augen. "Wir sahen auf der Weierstraße einen einzelnen deutschen Soldaten, der wie von Sinnen um sich schoss. Auf der Humperdinckstraße ist er dann gefallen."

Kämpfe loderten am 10. April auch an der Goldenen Ecke und in der Kaiserstraße auf. Und es gab Schießereien an Bach- und Ringstraße, im alten Gymnasium an der Humperdinckstraße und am Krankenhaus. Der deutsche Kampfkommandant, dessen Gefechtsstand im Gymnasium untergebracht war, soll eine Übergabe selbst dann noch abgelehnt haben, als die Amerikaner den Backsteinbau schon umstellt hatten. Sein Adjutant hat Zeitzeugenberichten zufolge die Übergabe mit Waffengewalt erzwungen.

Als die Stadt am 10. April unter Kontrolle der Amerikaner stand, war der Krieg für die Siegburger beendet. Nicht jedoch für das 303. Regiment: Siegburg war auf dem Vormarsch ins Ruhrgebiet nur eine Station.

Gedenken: Anlässlich des Jahrestags findet am Freitag, 10. April, ein ökumenischer Gottesdienst statt. Beginn ist um 18.30 Uhr in der Krankenhauskapelle am Helios Klinikum. Dem schließt sich ein Schweigegang an.

Chronik

  • 28. Dezember 1944: Schwerer Luftangriff auf Siegburg. Abtei und Bürgermeisteramt werden beschädigt beziehungsweise zerstört.
  • 6. März 1945: Weiterer folgenschwerer Luftangriff: 100 Tote.
  • 9./10. März 1945: Bombenangriffe auf Wolsdorf, wo sich Gestapoleute versteckt halten. Ein zum Luftschutzraum umfunktionierter Bierkeller wird verschüttet. Insgesamt mehr als 100 Todesopfer.
  • 21. März 1945: Das 303. Regiment der 97. US-Infanteriedivision erreicht das Siegufer auf Mülldorfer Seite. Wochenlang beschießen die Amerikaner Siegburg mit Granatwerfern.
  • April 1945: Am 8.April starten die Amerikaner ein ganztägiges Trommelfeuer, am 9. April überqueren sie die Sieg und nehmen die Stadt ein. Letzte Gefechte am 10. April. Am selben Tag wird der Deutsch-Amerikaner Eugen Vogel, gebürtiger Siegburger, als Bürgermeister eingesetzt.
  • 8. Mai 1945: Kriegsende nach bedingungsloser Kapitulation der Wehrmacht. 603 Siegburger sind an den Fronten gefallen, 217 Bürger kamen durch Bomben ums Leben, 457 starben an den Kriegsfolgen. 7567 Siegburger sind versehrt. Ab Juni gehört Siegburg zur britischen Zone.
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