Phrix AG Eine familiäre Fabrik

SIEGBURG · Sie galt als kriegswichtiger Betrieb, sie war verantwortlich für Umweltverschmutzung größeren Ausmaßes. Aber sie prägte den Industriestandort Siegburg, und sie gab Tausenden Arbeit. Die Rede ist von der Phrix AG, ehemals Rheinische Zellwolle AG, ehemals Chemie-Faser AG.

Das Werk produzierte von 1937 bis 1971 in der Kreisstadt. Dann kam die Schließung, und 1600 Mitarbeiter standen auf der Straße. Ein Teil der Fabrikbauten, etwa der markante Turm, existiert heute noch. Die Phrix ist am 27. Mai ein Thema beim vierten Zeitzeugengespräch des General-Anzeigers im Stadtmuseum (Beginn: 19 Uhr). Dann steht die "Siegburger Arbeitswelt anno dazumal" im Mittelpunkt. Von heute an gibt der GA in einer Reihe von Artikeln einen Vorgeschmack.

Ein sonniger Mai-Nachmittag an den Wolsbergen. Barbara Clarenz hat ein dickes grünes Buch hervorgeholt: das "Berichtsheft". Darin hat sie als junge Frau ihre Ausbildung bei der "Phrix" zur Bürogehilfin in der Zeit von 1961 bis 1963 dokumentiert. Und zwar in einer Sauberkeit, die den Betrachter in Ehrfurcht erstarren lässt. "Deshalb ist das Buch auch auf einer Büroausstellung ausgelegt worden", erinnert sich die heute 70-Jährige, als sie mit ihrer Schwester Gisela Gull - beide geborene Vollrath - den Band durchblättert. Man erfährt per Schönschrift alles über das Berufsbild der Bürogehilfin, man findet Einstellungsbögen, Laufzettel und Urlaubsformulare exemplarisch abgeheftet, Kunstfaserpröbchen sind nach Farben sortiert. Und man kann auf fünfeinhalb Seiten den "Weg einer Eingangsrechnung" nachvollziehen.

Gisela Gull war wie ihre Schwester im kaufmännischen Bereich der "Phrix" tätig. "Angefangen habe ich 1956 in der Werksbücherei", berichtet die 77-Jährige. Barbara Clarenz amüsiert das. "Ach, deshalb konntest du meine Schulbücher immer so sauber in Klebefolie einschlagen?"

Plötzlich ist alles wieder da. Der Weg morgens ins Werk, eilig, weil man knapp dran war. "Guten Morgen, Fräulein Vollrath", grüßte der Pförtner freundlich. Computer im Büro? Gab es noch nicht. "Ich erinnere mich, dass ich die Lohntüten fertigmachen musste. 186 000 Mark waren auszuzahlen, und alles musste auf den Pfennig stimmen", erzählt Barbara Clarenz. Auf dem Flur stand ein bewaffneter Wachposten. Mittags aß man in der Werkskantine. Sie war unterteilt in zwei Bereiche: für Arbeiter und für Angestellte.

Die Geschichte der Fabrik geht zurück ins Jahr 1928. Genauer gesagt: die des Fabrikgebäudes. Es wurde von der Bemberg AG zur Kunstseidenherstellung errichtet. Doch die Produktion ging infolge der Weltwirtschaftskrise nicht in Betrieb. Die Hallen blieben leer, bis 1937 die Rheinische Zellwolle AG einzog. Gemäß der Vorgabe des Nazi-Regimes sollte die Textilindustrie von Importen unabhängig gemacht werden. Die Zellwolle sollte die Baumwolle ersetzen; sie basierte auf dem Rohstoff Holz, der zu Zellulose verarbeitet wurde. Das Fasermaterial wurde im Zweiten Weltkrieg auch für die Herstellung von Fallschirmen eingesetzt. Nach Bombenschäden musste die Rheinische Zellwolle den Betrieb Ende 1944 einstellen. Erst 1948 sollte es weitergehen, unter dem Namen Chemie-Faser AG.

Der Vater von Barbara Clarenz und Gisela Gull fand dort Arbeit als Chemiker und wurde Abteilungsleiter. Zu seinen Aufgaben gehörte es, Wasserproben in Sieg und Mühlengraben zu nehmen. Das erledigte er bisweilen während des Sonntagsspaziergangs, erzählen die Schwestern. "Da er in Bereitschaft war, hatten wir schon früh ein Telefon", sagt Barbara Clarenz. "Weil das so selten war, telefonierte die Nachbarschaft bei uns." Besonders erbaulich war die Entnahme der Wasserproben wohl nicht. Gab es im Umfeld des Chemiebetriebs doch permanent Klagen über Verschmutzung. "Das früher klare Siegwasser gleicht nunmehr schmierigem Kloakengewässer", schimpfte der Besitzer des Mülldorfer Guts Friedrichstein bereits 1939 in einem Brief an den Siegkreis. Auch die Abgase des Werks, ein beißender Faule-Eier-Gestank, begleitete die Siegburger täglich. Produktionsrückstände in Form hochgiftiger Schlämme wurden in alten Stallberger Tongruben abgekippt. Das machte Jahrzehnte später eine aufwendige Sanierung erforderlich.

In den 50er Jahren interessierte das kaum jemanden. Die Auftragsbücher waren voll, und die Menschen hatten Arbeit. Im Buch "Der Siegkreis" von 1959 ist nachzulesen, dass die "Phrix" seinerzeit 2000 Mitarbeiter beschäftigte. Das entsprach 85 Prozent aller Beschäftigten in der Chemieindustrie Siegburgs. Diese war wichtigster Industriezweig der Stadt. Die Rohstoffe - Kohle, Zellulose, Lauge und Säure - ließ sich das Werk über einen Gleisanschluss liefern, der von der Aggertalbahn abzweigte. Da der Wasserverbrauch bei der Produktion immens war, gehörte die "Phrix" 1953 zu den Geburtshelfern der Wahnbachtalsperre. Damals stellte das Unternehmen nicht nur Kunstfaser für die Textilindustrie her, sondern auch Phriphan, eine Zellglasfolie, die bei der Verpackungsherstellung zum Einsatz kam.

Zum Beispiel bei "Dr. Kochs Anis-Fenchel-Bonbons gegen Husten und Heiserkeit". Das Tütchen ist fein säuberlich in Barbara Clarenz' Berichtsheft eingeklebt. Eigentlich, erzählt Gisela Gull, habe sie ursprünglich gar nicht zur "Phrix" gewollt. "Aber dann starb unser Vater, und wir hatten gute Chancen auf eine Lehrstelle." Das Unternehmen sei familiär und sozial gewesen. Da gab es Weihnachtsfeiern im Hotel "Zum Stern", bei denen die Kinder mit Geschenken bedacht wurden. Man lebte in Werkswohnungen, und im Westerwald bot ein Erholungsheim die Gelegenheit zu einem preiswerten Urlaub. In der fünften Jahreszeit trat eine eigene Karnevalstruppe auf: die Faser-Husaren. Da hätten sie als Kinder gerne als Tanzmariechen mitgemacht, sagen die beiden Schwestern und lachen. Den Niedergang der Phrix erlebten sie nicht mit, da hatten sie schon den Job gewechselt.

1967 übernahm die BASF die Phrix AG. Was zunächst auf eine Ausweitung der Produktion in Siegburg hoffen ließ, führte wenige Jahre später zur Werksschließung. Die Folienproduktion wurde wegen Verflechtungen der BASF mit anderen Firmen eingestellt, und der Absatz von Zellwollfäden im Ausland brach ein. Eine Krise, von dem sich das Unternehmen nicht mehr erholte.

Mit bedächtigen Bewegungen zieht Ernst Englisch Schriftstücke aus einer Mappe. Seine kräftigen Hände sind von einem langen und harten Arbeitsleben gezeichnet. "Phrix-Werke AG Siegburg" steht auf den Blättern. Es sind seine Kündigung und sein Arbeitszeugnis, beides ausgestellt im Sommer 1971. "Mit Rücksicht auf die durch die Organe unseres Unternehmens beschlossene Stilllegung des Werkes Siegburg der Phrix-Werke AG, sehen wir uns leider gezwungen, das zwischen Ihnen und uns bestehende Arbeitsverhältnis zum 30. September 1971 zu kündigen", steht in dem Formschreiben.

"Ich war einer von 1600 Beschäftigten, die damals betroffen waren", erzählt der 88-Jährige, der 1953 von einer Drahtweberei in Hangelar zur "Phrix" gewechselt war. In dem Siegburger Werk brachte er es zum Vorarbeiter in der Trocknerei. Gearbeitet wurde im Schichtbetrieb, an sieben Tagen der Woche. Englisch bediente Trockenöfen und Ballenpressen. Welche Ausbildung er bekommen hat? "Man bekam gezeigt, wie das geht, und dann konnte man das", sagt der gebürtige Mähre, der später bei Dynamit Nobel arbeitete.

An seine 18 Jahre bei der "Phrix" erinnert er sich gerne. Wegen des familiären Umgangs, aber auch wegen des letzten Direktors Kurt Kandler, dem er verbunden blieb. Ein Foto aus dem Bestand der Firma hält er in Ehren. Es ist eine schwarz-weiße Panoramaaufnahme des Werksgeländes. Einmal Phrixer, immer Phrixer.

GA-Zeitzeugengespräche

Unter dem Motto "So hab ich's gesehen" hatte die GA-Redaktion 2014 anlässlich der 950-Jahr-Feier Siegburgs die Zeitzeugengespräche ins Leben gerufen. In bislang drei Talkrunden im Stadtmuseum berichteten Zeitzeugen über die Nachkriegszeit, die Jugendszene der 60er und 70er Jahre sowie über historische Bahnlinien der Stadt.

Am Mittwoch, 27. Mai, geht es weiter mit dem Thema "Arbeitswelt anno dazumal". Alles dreht sich um alte Siegburger Unternehmen und Produkte, aber um den Arbeitsalltag allgemein. Beginn ist um 19 Uhr, der Eintritt ist frei. Aus organisatorischen Gründen wird um Anmeldung gebeten: siegburg@ga-bonn.de oder (ab Montag) unter Tel. 02241/1201200.

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