Mobilitätsforscher sehen London als Vorbild „Eine Frage des politischen und gesellschaftlichen Willens“

Rhein-Sieg-Kreis · Warum fällt es so schwer, aufs Auto zu verzichten? Mobilitätsforscher fordern schon seit Jahrzehnten ein Umdenken in der Verkehrspolitik und schlagen den Aufbau von Verhaltensbarrieren vor. Ein Vorbild könnte die englische Hauptstadt London sein.

Die Park Lane mitten in London: Zwei Spuren für Fahrräder, zwei für die Busse und eine für die Autos.

Die Park Lane mitten in London: Zwei Spuren für Fahrräder, zwei für die Busse und eine für die Autos.

Foto: Dylan Cem Akalin

„Die Verkehrswende ist nicht nur eine technische Frage, sondern eine Frage des politischen und gesellschaftlichen Willens“, sagt Professor Alexander Boden. Der Wissenschaftler von der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg (H-BRS) beschäftigt sich mit seinem Team vom Institut für Verbraucherinformatik (IVI) in mehreren Forschungsprojekten mit dem Thema Mobilität. „Sobald jemand einen konkreten Vorschlag macht, gibt es einen, der erklärt, warum genau das nicht funktionieren wird.“ Es gebe viele gute Ideen, wie man wegkommen könne vom Pkw hin zu einem System, das stärker auf ÖPNV, Sharing und Dezentralität ausgerichtet ist. „Wir müssen die Mobilitätswende jetzt anpacken. Ich hoffe, dass wir dann merken, dass die ganzen Probleme, die wir uns immer einreden, gar nicht so riesig sind.“

„Ich bin verliebt in mein Auto“, rief kürzlich beim Mobilitätstag an der H-BRS ein Studierender während einer Diskussion aus. Einer Untersuchung des Tüv Nord vom vergangenen Jahr zufolge bezeichnet jeder dritte Autobesitzer sein Gefährt als „alten Freund“. Das sagt schon einiges zur Einstellung zur Blechkarosse aus. Das Auto ist für viele mehr als nur ein Fortbewegungsmittel.

„In Corona-Zeiten war das eigene Auto der sicherste Raum“, erklärte der Verkehrspsychologe Jens Schade kürzlich in einem Interview mit WDR5. Schade befasst sich an der Technischen Universität Dresden unter anderem mit Themen wie Verkehrssicherheit und Mobilitätsverhalten. Selbst, wenn man lange im Stau stehe, man habe das Gefühl, man verlängere die Zeit im Privatraum sobald man im Auto sitze.

Das Auto ist für viel mehr als nur ein Fortbewegungsmittel

„Wir lernen ganz früh an mit dem Auto zu leben. Der Aktionsraum und Aktivitätsraum wird durch das Auto definiert“, so Schade. Andererseits habe sich in den vergangenen Dekaden ja auch vieles im Nahraum verändert. Kleine Läden etwa seien in der näheren Umgebung fast komplett weggefallen. Die Verschiebungen von Angeboten an den Rand oder ins Zentrum der Städte hätten auch zu einer gewissen Abhängigkeit vom Auto geführt.

Schade gehört zu den Mobilitätsforschern, die schon seit Jahrzehnten den Aufbau von Verhaltensbarrieren fordern: Abschaffung von Parkplätzen, Anhebung von Parkgebühren in Innenstädten – die Nutzung des Pkw für Fahrten in die Innenstadt einfach erschweren. Hier liege ein großes Steuerungspotential zur Beeinflussung des Mobilitätsverhalten.

Fakt ist: Wir benötigen viel Raum für Straßen. 40 bis 60 Prozent der urbanen Flächen werden für Autos gebraucht. Dass das zu viel ist, erkannten Stadtplaner schon in den 1960er Jahren. „Traffic in Towns“ war der Titel eines einflussreichen Berichts über Stadt- und Verkehrsplanungspolitik, der 1963 für das britische Verkehrsministerium von einem Team unter der Leitung des Architekten, Bauingenieurs und Planers Colin Buchanan verfasst wurde. Vor 60 Jahren warnten die Autoren vor den möglichen Schäden, die durch das Auto verursacht würden, und sprachen teils radikale Handlungsempfehlungen aus. Aufgrund des Berichts wurden in London nicht nur einige Fußgängerzonen geschaffen, auch Pläne für einen massiven Ausbau des Autobahnrings wurden aufgrund der Aussagen in dem Report zerschlagen.

London hat die Verkehrswende bereits in den 1960er Jahren eingeleitet

Den Stadtplanern in London wurde schnell klar, dass Kapazitätserweiterungen nicht die Lösung sein konnten, sondern dass Straßen effizienter genutzt werden müssten. In den 90er Jahren wurden die Busspuren optimiert und ausgebaut, sogenannte Low Traffic Neighborhoods, also verkehrsarme Quartiere, geschaffen. Die Fahrspuren für den Individualverkehr werden auch heute weiter reduziert, mehr Low Traffic Neighborhoods geschaffen, indem Straßen etwa durch große Pflanzkübel einfach gesperrt werden.

2003 wurde die London Congestion Charge, die Staugebühr, für die Innenstadt eingeführt. Die Tagesgebühr beträgt 17,50 Pfund oder bei einer Onlineregistrierung 15 Pfund. Kameras überprüfen die Einhaltung der Gebührenpflicht. Interessant: Zuständig für die Maut ist die Transport for London (TfL), die für das ÖPNV-System zuständig ist. Mobilitätsforscher sehen übrigens in der Organisation und der Effizienz der TfL einen wesentlichen Grund für das Funktionieren des Nahverkehrs in der britischen Hauptstadt. Sie koordiniert seit 2001 das komplette Verkehrssystem in London und ist direkt dem Mayor of London (Oberbürgermeister) unterstellt. Die TfL ist für alle Verkehrssysteme zuständig: die Underground, die Eisenbahnverbindungen, die Busse und den gesamten sogenannten Oberflächenverkehr. Dazu gehören auch die Unterhaltung der wichtigsten Straßen, die Fußgängerbereiche und die Entwicklung des Güterverkehrsplans. Wer einmal in London unterwegs ist, wird fasziniert sein, wie gut das Verkehrssystem funktioniert.

Autofreie Sonntage in Paris

Den Ansatz, die Attraktivität der aktuellen Verkehrswege zu reduzieren, haben andere europäische Großstädte auch längst angepackt. Kopenhagen zum Beispiel reduziert die Anzahl der Parkplätze pro Jahr um ein Prozent. Seit Mai 2016 sind die Champs-Elysées einmal im Monat, jeweils am ersten Sonntag, für Autos gesperrt. Ende September gibt es einen weiteren Tag, an dem in weiten Teilen der Pariser Innenstadt, kein motorisierter Verkehr zulässig ist. Die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, geht sogar noch weiter: Die inneren vier Arrondissements und nördlich des Boulevard Saint-Germain liegende Teile des fünften, sechsten und siebten Arrondissements sollen zu einer dauerhaften Fahrverbotszone erklärt werden, wo nur noch Busse, Taxis sowie Lieferverkehr und Fahrzeuge von dort arbeitenden Handwerkern zugelassen sind.

Warum ist diese Strategie in Deutschland so nie verfolgt worden? Rainer Bohnet, Vorsitzender des VCD Bonn/Rhein-Sieg nennt zwei Gründe: „Erstens: Weil sich die Entscheidungsträger in einem kollektiven Tiefschlaf befanden. Es gab ja in Deutschland auch genügend Forscher, die über die Fehlentwicklung in der Verkehrspolitik hingewiesen haben. Und zweitens: Weil die autofixierte deutsche Gesellschaft das nicht hören wollte.“

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