Demografischer Wandel im Rhein-Sieg-Kreis „Es gibt im Kreis ein Ost-West-Gefälle“

RHEIN-SIEG-KREIS · Auch nach seiner Zeit als Sozialdezernent des Rhein-Sieg-Kreises bleibt für Hermann Allroggen das Älterwerden auf dem Land sein Thema. Als Vorsitzender des Vereins Kivi widmet er sich weiter sozialen und gesellschaftspolitischen Themen.

 Trostlosigkeit auf dem Land: Manchen Gegenden im Osten des Kreises droht Verödung.

Trostlosigkeit auf dem Land: Manchen Gegenden im Osten des Kreises droht Verödung.

Foto: Nicolas Ottersbach

Auf einen Kaffee mit Hermann Allroggen. Es ist Mittagszeit in der Siegburger Innenstadt. Draußen vor dem Café ziehen Passanten vorbei. Plötzlich bleiben zwei Frauen, dem Alter nach könnten es Mutter und Tochter sein, stehen und schauen durch das Fenster. Moment mal, kennen wir den nicht? Allroggen unterbricht das Gespräch, dreht sich um und grüßt kurz. Ja, man kennt ihn. 21 Jahre lang war er Sozialdezernent des Rhein-Sieg-Kreises. „War“ muss man seit Neuestem sagen, denn der Sankt Augustiner ist Anfang Februar mit 66 Jahren in den Ruhestand gegangen. Und doch wird er sich weiter sozialen und gesellschaftspolitischen Themen im Kreis widmen: als Vorsitzender des Vereins Kivi.

Gegründet zur Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen, hat sich Kivi inzwischen ein weiteres Themenfeld erschlossen: die demografische Entwicklung und ihre Folgen. Das Programm „Mitten im Leben“ (MiL), das Allroggen maßgeblich in Gang gesetzt hat, soll das Leben in ländlichen Gegenden attraktiv machen. So attraktiv, dass Bewohner im Alter so lange es geht in ihrem Umfeld wohnen bleiben können.

Ein Thema, das vor allem im weitläufigen, zerklüfteten östlichen Kreisgebiet eine Rolle spielt. Der Großteil der Region boomt, vor allem an der Rheinschiene und in den umliegenden Ballungsräumen. An der oberen Sieg, teils auch im Bergischen, spricht man dagegen über wegbrechende Infrastruktur, Abwanderung, Überalterung, nachlassende Kaufkraft – eine gefährliche Mischung, die Kommunen in eine Abwärtsspirale ziehen kann. „Es gibt im Kreis eine Ost-West-Gefälle, das sich nicht so ohne Weiteres beheben lässt“, sagt Allroggen. „Aber wir können präventiv etwas tun.“

Hilfe zur Selbsthilfe

Hilfe zur Selbsthilfe – das ist das Anliegen von „Mitten im Leben“, das vom Land NRW, Sponsoren und Kommunen finanziert wird. „Wir können Anstöße geben, brauchen vor Ort aber Menschen, die Ideen einbringen und realisieren“, so der Kivi-Vorsitzende. So haben sich bislang in sechs Orten in Eitorf, Windeck, Ruppichteroth, Neunkirchen-Seelscheid und Much sowie im ländlichen Teil Hennefs generationsübergreifend Bewohner zusammengefunden, die etwas bewegen wollen. Mal geht es um Mobilität, mal um Sicherheit, mal um die Nahversorgung. Wo sich keine Ketten und Discounter niederlassen, erlebt der Tante-Emma-Laden eine Renaissance, auch als sozialer Treff. Doch wer soll ihn betreiben? „Mitten im Leben“ steht in Kontakt mit dem Projekt DORV, das bei Planung, Aufbau und Betrieb kleiner Geschäfte beratend zur Seite steht.

Das Vorhaben, Lebensverhältnisse auf dem Land zu stabilisieren, hängt nicht zuletzt mit den Sozialkosten zusammen. Die Menschen werden immer älter, und sie erfreuen sich dabei relativ guter Gesundheit. Es nimmt aber auch die Zahl derer zu, die nach dem Sozialgesetzbuch Ansprüche geltend machen können: „Schon vor Jahren war absehbar, dass die Kosten für die Hilfe zur Pflege massiv steigen werden“, so Allroggen. Schon deshalb müsse alles daran gesetzt werden, den Menschen auch im Alter ein intaktes Lebensumfeld zu bieten.

Eine Heimunterbringung kostet den Kreis mehr als häusliche Krankenpflege. Für die Hilfe zur Pflege und Pflegewohngeld hat der Kreis 2017 insgesamt 30,6 Millionen Euro veranschlagt, für 2018 31,2 Millionen Euro – Tendenz in den Folgejahren steigend. Allgemein machen die Sozialhilfekosten einen großen Teil des Kreisetats aus. Sie liegen 2017 insgesamt bei 212 Millionen Euro, für 2021 sind bereits 256 Millionen Euro prognostiziert.

„Als Sozialdezernent gilt man ja als Ressourcenverschwender“, meint Allroggen scherzhaft. Deshalb sei es ihm darum gegangen, vorbeugend zu wirken und neue Wege zu gehen, um Folgekosten nicht ausufern zu lassen. Ob nun bei der Jugendhilfe, bei der Gesundheit oder bei der Sozialhilfe. Als der aus dem westfälischen Warburg stammende Allroggen 1996 nach Siegburg kam, war die Arbeitslosigkeit beherrschendes Thema. Sie war bundesweit hoch, und auch im Kreis standen plötzlich Hunderte ohne Arbeit da, bedingt durch die Entlassungen beim Automobilzulieferer Boge in Eitorf. Damals entstand auf Initiative des Kreises die Arbeitsförderungsgesellschaft Obere Sieg (Argos), die über Jahre als Transfergesellschaft in der Region wirkte.

"Aktivierende Sozialhilfe"

Auch sonst entwickelte der Kreis einige Initiativen („Maatwerk“, „Treppe zur Arbeit“), um Menschen wieder in Lohn und Brot zu bringen. Allroggen spricht von „aktivierender Sozialhilfe“ und „passgenauer Vermittlung“. Dann kamen 2005 die Hartz-Reformen, und der Kreis setzte seine Bemühungen mit der Arbeitsagentur unter dem Dach der Arbeitsgemeinschaft (Arge) fort. Nach den jüngsten Zahlen vom Januar waren im Kreis 16 729 Menschen ohne Job, was einer Quote von 5,3 Prozent entspricht. Das ist deutlich unter Landesdurchschnitt.

Mit Allroggen, der mehr als 200 Mitarbeiter in seinem Arbeitsbereich hatte, verlässt der einzige Dezernent mit SPD-Parteibuch das Kreishaus. Durch seinen Ruhestand und den seines Kollegen Bernd Carl wurden beim Kreis die Führungsebene verschlankt und Zuschnitte verändert. Statt sieben Dezernenten gibt es nur noch fünf.

Wie es sich anfühlt, nach mehr als 40 Jahren Verwaltung aufzuhören? Hermann Allroggen nippt an seinem Kaffee. „Auf diesen Moment kann man sich nicht vorbereiten.“ Doch er hat eine Vorstellung, wie er seine Zeit verbringen wird: „50 Prozent Freizeit, 50 Prozent Ehrenamt, körperlich und geistig lange in Bewegung bleiben“, sagt der Jurist und passionierte Radfahrer. Bei Kivi ist er noch für zwei Jahre als Vorsitzender gewählt, zudem entsendet ihn die Arbeiterwohlfahrt in die Bundesarbeitsgemeinschaft für Seniorenorganisationen. Auch da geht es um „sein“ Thema: das Älterwerden in einer alternden Gesellschaft.

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