"Man lügt sich selbst an"

SIEGBURG · Analphabeten lernen in Kursen der Volkshochschule das Lesen und Schreiben

Der Mann im Kapuzenpullover, der eine umgedrehte Baseballkappe auf dem Kopf trägt, sieht nicht eben aus wie jemand, der sich für Goethe, Schiller und Voltaire interessiert. Dabei ist es Jens Hammerbachs innigster Wunsch, diese Klassiker einmal selbst zu lesen, die er nur aus Internetvideos kennt. Wenn er denn könnte. Denn der 35-jährige Siegburger, der eigentlich anders heißt, ist Analphabet. Ein Kursus der Volkshochschule soll das ändern. Jens Hammerbach kämpft für einen Lebenstraum: Sein Ziel ist es, irgendwann ein eigenes Buch zu schreiben.

Laut einer Studie der Universität Hamburg gelten 7,5 Millionen Menschen in Deutschland als so genannte funktionale Analphabeten. So werden Menschen bezeichnet, die zwar einzelne Wörter und Sätze, aber keine einfachen, kurzen Texte lesen können. Laut Birgit Elbe-Lange, die als Sprachtrainerin für die Volkshochschule (VHS) Rhein-Sieg arbeitet und Lernmodule für Alphabetisierungskurse geschrieben hat, sind die Ursachen dafür höchst unterschiedlich. Während die einen nie zur Schule gegangen seien, lägen bei anderen Teilleistungsstörungen wie eine Lese-Rechtschreibschwäche vor. Als wesentliches Merkmal spiele dabei das Schamgefühl der Betroffenen eine Rolle. "Viele Analphabeten denken, sie seien dumm", sagt Elbe-Lange. Daraus würden sich Scham und typische Vermeidungsstrategien entwickeln. Situationen, in denen gelesen oder geschrieben werden muss, werden gemieden.

Jahrelang hat auch Jens Hammerbach versucht, seine Fassade aufrecht zu halten. Etwa dann, wenn ein Freund ihm einen Witz zu lesen gab, den er nicht lesen konnte. Den er dann aber dennoch leise murmelnd mit einem Lachen quittierte, um nicht als Analphabet aufzufallen. Oder wenn er vorgab, seine Brille vergessen zu haben, wenn er ein Formular ausfüllen sollte. Ausweichstrategien, wie sie Analphabeten tagtäglich nutzen. Doch dem geschriebenen Wort lässt sich nicht dauerhaft ausweichen. Briefe von Behörden, ein Personalbogen des Arbeitgebers, Formulare für die Kinder - der Alltag ist durchsetzt von Schriftzeichen, die Analphabeten nicht entziffern können. Über all dem hängt ein Mantel der Scham. "Es beginnt schon in der Grundschule", sagt Jens Hammerbach. "Man schämt sich dafür, dass man aus einem Buch nicht vorlesen kann, im Gegensatz zu den Klassenkameraden." Ein Gefühl, das ein Leben lang bleibt und Betroffene auch als Erwachsene verfolgt. "Man denkt sich: Jedes Kind kann das, was du nicht kannst", so Hammerbach.

Zweimal in der Woche gibt es in der VHS Rhein-Sieg im VHS-Studienhaus Kurse für Analphabeten. Ein Semester kostet die Teilnehmer gerade einmal zehn Euro. Die übrigen Kosten werden durch die VHS gedeckt. "An den Kosten soll die Alphabetisierung nicht scheitern", sagt Alexandra Haas, Fachbereichsleiterin für Deutsch und Alphabetisierung der VHS. Viele Menschen würden sich dann anmelden, wenn eigener Nachwuchs ins Haus steht. "Kinder zu bekommen ist für viele ein starker Motivator, sich den Problemen zu stellen", so Haas.

Wie tief sich solch ein Defizit in einen Lebenslauf eingräbt, lässt sich nur erahnen. "Ich kann zwar einzelne Wörter oder auch Sätze lesen", sagt Jens Hammerbach, "aber das zu verstehen ist ein ganz anderes Paar Schuhe." Ihn verfolge ein Gefühl von Unzulänglichkeit. Schon in der Grundschule fällt ihm das Lesen und Schreiben schwer. Therapeuten sagt er, er habe Probleme mit dem Hören. Doch die glauben ihm nicht. Man schickt ihn auf eine Sonderschule, dann auf eine Schule für schwer Erziehbare, dann wieder zurück auf die Sonderschule. Mit 16 Jahren geht er von der Schule ab, weil ihm der Lernstoff zu hart erscheint. Eine Lehre bricht er ab. Er gerät auf die schiefe Bahn, wird straffällig, verbringt zwei Jahre im Gefängnis.

Nach der Entlassung will sich Hammerbach endlich seinen Problemen stellen. Er erfährt, dass auch Mutter und Onkel nicht lesen und schreiben können. Er will sich nicht länger verstecken. "Man lügt sich nur selbst damit an", sagt er. Heute sitzt der Siegburger im Alphakursus der VHS, büffelt Rechtschreibung und Grammatik. "Man muss ein gewisses Selbstbewusstsein entwickeln und sich sagen: Es gibt noch andere Leute, die das nicht können", sagt er. Wenn es mal nicht rund läuft, hilft ihm sein Traum dabei, weiterzumachen. Denn Hammerbach wünscht sich, einen eigenen Fanatasy-Roman zu schreiben. Als Vorbild nennt er Harry-Potter-Autorin Joanne K. Rowling: Die habe es ja auch auf eigene Faust geschafft. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg: Hammerbach kehrt zurück zu seinen Übungen, trainiert Silbentrennung und Pluralformen. "Im Endeffekt hilf man sich selbst damit", sagt er.

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