Interview mit Martin Booms “Ein Teil meiner Heimat liegt tatsächlich in der Philosophie“

Interview | Siegburg · Der Bonner Philosoph Martin Booms philosophiert regelmäßig im Siegburger Stadtmuseum. Die nächste Philosophische Stunde steht unter dem Thema "Sehnsuchtsort Heimat?". Susanne Haase-Mühlbauer sprach mit ihm über „Heimat" und das „Denken ohne Geländer“.

 Martin Booms von der Alanus-Hochschule philosophiert regelmäßig im Siegburger Stadtmuseum.

Martin Booms von der Alanus-Hochschule philosophiert regelmäßig im Siegburger Stadtmuseum.

Foto: Benjamin Westhoff

Er spricht über Moral und Werte, diskutiert über Fake und Fakten und gibt Gefühlen wie Sehnsucht und Angst ein öffentliches Podium. „Das Wenigste ist ganz und gar wahr", sagt der Bonner Philosophie-Professor Martin Booms, der bereits ein paar seiner Philosophischen Stunden in Siegburg abhielt und im Anschluss mit den Besuchern gemeinsam philosophierte. Über Vorbilder für Philosophen, Menschlichkeit in der Wirtschaft und warum jeder einen eigenen Heimat-Begriff hat, sprach der Sozial- und Wirtschaftsphilosoph im Vorfeld seiner nächsten Philosophischen Stunde mit Susanne Haase-Mühlbauer.

Sie sind Philosophie-Professor, geben Interviews zu Themen der Sozial- und Wirtschaftsphilosophie und sind ein gefragter Gesprächspartner zu Fragen der Ethik und Werte-Einschätzung. Wie kommt es zu einem so kleinen, persönlichen Format in Siegburg?

Martin Booms: Zum einen bin ich als Hochschullehrer akademisch unterwegs. Gleichzeitig bin ich aber auch seit 15 Jahren selbstständig und philosophiere in freien Formaten. Da halte ich es mit dem Philosophie-Verständnis von Sokrates, der ja auch auf den Marktplatz ging und die Themen mit den Menschen diskutierte.

Wenn Sie mit Ihrem Publikum diskutieren, wollen Sie dann eine Antwort finden?

Booms: Es geht mehr darum, die richtigen Fragen zu finden, auf die jeder dann möglicherweise auch vernünftige eigene Antworten findet. Darin liegt die erste Aufgabe der Philosophie. Nicht aber, missionarisch etwas vorzugeben. Was prägt zum Beispiel das Bild der Realität? Gibt es „die“ Wahrheit, und woran lässt sie sich festmachen? Könnte hinter der Idee „alternativer Fakten“ etwas anderes stecken als eine bloße Kultur der politischen Lüge? Das sind alles alte und hochaktuelle, philosophische Fragen.

Nach „Identität und Gender-Thematik" standen in Siegburg bereits „Tod und Sterben", „Corona" und „moralisierendes Polarisieren" auf Ihrer Themenliste. Nun ist „Heimat" Ihr nächstes Thema. Was bezeichnen Sie selber damit?

Booms: Heimat ist nicht einfach da. Sie ist kein statischer Ort, sondern etwas, das es immer erst zu bestimmen gilt. Sie steht für Geborgenheit, Zuhause-Sein, Sicherheit. Aber wo das ist und was das vermittelt, kann sich verändern. Viele verbinden damit zum Beispiel bestimmte Landschaftsbilder oder auch Gerüche aus der Kindheit. Sie hat aber auch einen Zukunftsbezug: Heimat ist eine Gestaltungsaufgabe. Ich muss sie mir selbst erarbeiten.

Warum führen Sie nun beim Titel „Sehnsuchtsort Heimat?" ein Fragezeichen in der Überschrift?

Booms: Das Fragezeichen verweist auf etwas Paradoxes, das dem Begriff innewohnt. Sie entsteht dann, wenn sie droht, verloren zu gehen. Das war bereits im Zeitalter der Romantik so. Der Mensch stand durch die Industrialisierung vor gewaltigen sozio-ökonomischen Umwälzungen, Vertrautes ging verloren, Naturräume veränderten ihre Gestalt – man denke etwa an das Ruhrgebiet. In diesem Kontext des Verlustes ist der Heimatbegriff in seiner heutigen Bedeutung entstanden. Auch nach 1945 erlebte er eine Blütezeit in Deutschland, als Reaktion auf den moralischen und physischen Totalzusammenbruch. Der berühmte „Heimatfilm“ der 1950-er Jahre zeugt davon.

Also können wir einen weiteren Heimat-Boom erwarten?

Booms: Ja, damit ist zu rechnen. Denn wir leben heute in einer Zeit fortgesetzter Katastrophenerwartungen. Ganz konkret sieht man das derzeit bei den Menschen in der Ukraine: Für viele wird sie erst jetzt, da sie bedroht, zerstört und besetzt wird, zu einem Identifikations- und Sehnsuchtsort, der in dieser Form vielleicht gar nicht vorhanden war. Gleichzeitig muss man, unabhängig von der Ukraine, immer wachsam sein, wenn der Heimatbegriff allzu sehr von nationalen Kategorien vereinnahmt wird. Dann kann Heimat auch bedrohlich werden. Gerade wir Deutschen sollten das wissen.

Welche Definition von „Heimat" haben Sie für sich gefunden?

Booms: (lacht) Als Philosoph ist man immer ja auf der Suche. Und in gewisser Weise ist diese Suche zu einem Teil meines inneren Zuhauses geworden ist. Ein Teil meiner Heimat liegt tatsächlich in der Philosophie. Aber auch meine Leidenschaft für Langstreckenradfahren ist ein Stück Heimat. Man lässt ständig etwas zurück und hat Neues vor sich, und genau in diesem Zwischen findet man zu sich selbst.

Finden Sie am Ende Ihrer Philosophischen Stunden immer einen Konsens mit den Besuchern?

Booms: Nein, aber es geht mehr um die Art und Weise der Diskussion. Das heißt zum Beispiel, den in der Sache Andersdenkenden nicht von vornherein als Feind oder Dummkopf zu betrachten, sondern mit Respekt zu begegnen. Öffentliche Diskussionen sind kein Kampfplatz für Gewinner und Verlierer. Am Ende müssen nicht alle einer Meinung sein.

Schopenhauer, Heidegger, Nietzsche und Kant - die Lehre großer deutscher Philosophen hat seit Jahrhunderten Studierende fasziniert. Wurden Sie ebenfalls von einem Vorbild geprägt?

Booms: Ich habe mich schon als Student immer schwergetan mit der allzu engen Bindung an Vorbilder. Das Selberdenken sollte man nicht an irgendwelche Autoritäten abgeben, auch wenn unendlich viel zu lernen ist aus der Philosophiegeschichte. Mir war es auch immer suspekt, wenn sich in der Wissenschaft jemand als „Schüler“ von diesem oder jener bezeichnet. Da halte ich es lieber mit Hannah Arendt, um jetzt klammheimlich doch noch ein Vorbild zu benennen: Es geht am Ende um ein Denken ohne Geländer.

Sie lehren zum Thema Wirtschaftsphilosophie unter anderem an der Universität St. Gallen. Fehlt es der Wirtschaft an mehr Menschlichkeit und philosophischem Zugang?

Booms: Wirtschaft steht ja nicht für sich, sondern im Gesamtzusammenhang des menschlichen Daseins. Sie hat den Menschen zu dienen, nicht etwa umgekehrt. Früher wurde man als Wirtschaftsphilosoph dort eher milde belächelt. Heute sind Wirtschaftsphilosophen anerkannter denn je. Das bietet auch Chancen, beide Studienwege näher zusammenzubringen.

Apropos Studium. Sie selbst haben auch Rechtswissenschaften studiert, bis Sie sich nach einigen Semestern endgültig für die Philosophie entschieden. Was sagen Sie jungen Studenten, die sich im „falschen" Studium befinden?

Booms: Man muss ehrlich zu sich selbst sein, darf sich nicht verbiegen, denn am Ende gibt es – frei nach Adorno – für niemanden ein richtiges Leben im falschen. Neuorientierung heißt nicht Scheitern. Auch jeder Umweg führt uns zu Neuem und zeigt uns etwas von uns selbst.

Als Philosoph sind Sie – wahrscheinlich mehr als alle anderen – auf der Sinnsuche. Ist es leichter, den Un-Sinn zu finden?

Booms: Ich glaube, jeder ist auf der Suche nach Sinn, nur mehr oder weniger bewusst. Damit ist aber auch eine Anstrengung verbunden, es braucht Mut. Leider nur sind Menschen zunehmend anfällig für bequeme Sinnangebote, aus denen Populisten ihre Suppe kochen. Die Menschen suchen die vermeintliche Sicherheit einfacher Wahrheiten. Je verunsicherter sie sind, desto mehr Konjunktur haben die Fertiggerichte der Populisten aus der Sinnkonserve.

Die Welt befindet sich auf vielen Ebenen in der Krise. Corona, Kirche, Klima, Krieg. Was würden Sie als Philosoph und Sozialethiker empfehlen?

Booms: Interessant ist ja, dass im Grunde alle diese Phänomene nicht neu sind: Die ökologische Problematik ist spätestens seit den 1970-er Jahren bekannt, sinnlose Kriege und tödliche Pandemien hat es fortwährend gegeben – nur nicht so nahe. Wirtschaftlich geht es der westlichen Welt so gut wie nie. Dennoch macht sich die Angst breit. Ich empfehle dringend, jetzt nicht in den Panik-Modus zu schalten. Dazu besteht kein Anlass, so ernsthaft die aktuellen Herausforderungen auch sind.

In der Corona-Zeit gab es Ihre Philosophie-Gespräche auch in Form von online-Lesungen. Wie wurde die digitale Alternative angenommen?

Booms: Wir haben online diskutiert, gesendet wurde aus dem Rhein-Sieg-Forum. Denken und Sprechen sind ja viel mehr, als Informationen zu senden und zu empfangen. Ein echter Austausch geht nur in der direkten, persönlichen Begegnung von Mensch zu Mensch. Darauf freue ich mich jetzt wieder.

Der Alanus-Professor Martin Booms steht zu einer weiteren Philosophischen Stunde im Stadtmuseum bereit. Booms referiert zur Frage „Sehnsuchtsort Heimat?" und steht anschließend zur Diskussion bereit. Die philosophische Runde beginnt um 19.30 Uhr im Stadtmuseum, Eintritt kostet 6 Euro.

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