Nationalsozialismus Neue Stolperstein-Broschüre erinnert an Verfolgte und Vertriebene aus Siegburg

Siegburg · In Siegburg wurden bis heute 88 Stolpersteine verlegt, um an die Opfer der Verfolgung im Zweiten Weltkrieg zu erinnern. Eine neue Broschüre erzählt deren Geschichten. Auch die derjenigen, die überlebt haben.

 Stellten die Stolperstein-Broschüre vor: Susanne Haase-Mühlbauer und Verfasser Jan Gerull.

Stellten die Stolperstein-Broschüre vor: Susanne Haase-Mühlbauer und Verfasser Jan Gerull.

Foto: Stadt Siegburg

Wer in der Siegburger Innenstadt über einen kleinen, bronzenen Wackerstein stolpert, sollte vielleicht einmal genauer hinsehen: Diese Stolpersteine sind jeweils vor den letzten bekannten Wohnorten von Menschen verlegt, die während der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden. In Siegburg sind die Steine vor allem Jüdinnen und Juden gewidmet. Stadtarchivar Jan Gerull hat nun eine Broschüre verfasst, die zu den häufig nicht mehr aktuellen Daten auf den Stolpersteinen teils umfangreiche Ergänzungen liefert. Darin werden die persönlichen Lebens- und Fluchtgeschichten aller 88 Siegburgerinnen und Siegburgern erzählt, die in dem Kunstprojekt des Künstlers Gunter Demnig bisher gewürdigt wurden.

So erfährt man zum Beispiel etwas über den 19-Jährigen Oscar Hoffmann, der im Juli 1942 mit seinen Cousins Walter und Hans Lion deportiert wurde. Noch an der Deutzer Messe schickte der Fotografenlehrling eine Postkarte an seinen Ausbilder: Die jungen Männer erwarte landwirtschaftliche Arbeit. Später berichtete er von einer angenehmen Zugfahrt, und äußerte die Hoffnung, womöglich sogar in seinem Ausbildungsberuf weiter arbeiten zu können. Jan Gerull, der die Biografien gemeinsam mit einem Praktikanten und einem Archivhelfer recherchiert hat, vermutet, dass Hoffmann dazu angehalten wurde, seine Situation zu beschönigen. Am 24. Juli fanden die drei Jugendlichen im Vernichtungslager Maly Trostinez bei Minsk den Tod.

Kein sicherer Hafen mehr

„Man hat damals nicht gewollt, dass Einzelheiten über die Vernichtung ins Volk dringen“, sagt Gerull, der seit Beginn des Jahres an der Stolperstein-Broschüre gearbeitet hat. „Das ist schon unheimlich, dass das so vonstatten ging: Es gab eine Gesetzgebung, und ein ganzes Volk schaute weg.“ An den Informationen, die er durch das Sichten von Meldekarten, Geburtsurkunden, Adressbüchern und durch Recherchen im Internet fand, könne man deutlich die „Stationen der Ausgrenzung“ ablesen. „Mit der Arisierung 1933 und dem Anlegen einer ‚Judenkartei‘ begann ein ständiges Umziehen“, berichtet der Stadtsprecher. Die hastigen Wohnortwechsel endeten häufig in den sogenannten Judenhäusern oder im Arbeitslager Much.

Schon das Lesen der kurzen Berichte in der Broschüre ist ergreifend. „Man erkennt einfach, dass es für die Menschen keinen sicheren Hafen mehr gab“, sagt Gerull. Seine Arbeit setzt die Idee des Stolperstein-Projektes fort, den Verfolgten und Vertriebenen ein Gesicht zu geben, indem ihre Geschichte erzählt wird. Nicht alle, denen ein Bronzestein gewidmet ist, sind während des Zweiten Weltkrieges umgebracht worden: „Über die Recherche erfuhren wir auch vom Leben derjenigen, die davongekommen sind“, so Gerull. So etwa die Tochter des Ehepaars Adelheid und Leopold Müller, die im Ruhestand in den USA koscheres Essen ausfuhr und 95 Jahre alt wurde.

Alle Texte sind auch online über das Cityportal der Stadt Siegburg zugänglich. Auf einer Karte kann man dort unter „Sehenswürdigkeiten“ den Standort eines Stolpersteins anklicken und erhält die zugehörige Biografie, inklusive Fotografien. Die gedruckte Broschüre liegt in Museen, in der Bibliothek, der VHS und beim Bürgerservice aus. Nach den Sommerferien werden die kleinen Hefte auch in den weiterführenden Schulen verteilt. www.cityportal.siegburg.de

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