Nachkriegszeit Siegburger berichten über ihre Jugend

SIEGBURG · Besatzung, Hunger, Wohnungsnot, Wiederaufbau - älteren Siegburgern ist die Zeit nach dem Kriegsende noch präsent. Der General-Anzeiger lädt für Mittwoch, 26. März, ab 19 Uhr zu einem Zeitzeugengespräch ins Stadtmuseum ein. Einige dieser Erlebnisse veröffentlicht der GA vorab.

 Der Siegburger Markt zu Beginn der 50er Jahre, kurz nach dem Wiederaufbau.

Der Siegburger Markt zu Beginn der 50er Jahre, kurz nach dem Wiederaufbau.

Foto: Repro: GA

Da sitzen sie nun, vier Damen um die 80. Beim Kaffeeklatsch im Café Fassbender werden lebhaft Erinnerungen an die Nachkriegsjahre ausgetauscht, alte Schwarz-Weiß-Bilder machen die Runde. Anni Trautwein (geborene Giesen), Ursula Gass (Römer), Johanna Becker (Nöfer) und Gisela Knorre (Muck) sind auf dem Driesch aufgewachsen, rund um die Annokirche.

Die Zeit vor dem Krieg sei unbeschwert gewesen, erzählt Johanna Becker. Die Kinder spielten auf der Weierstraße oder im Dittscheids Gärtchen, einer nahe gelegenen Wiese. Erst ab der zweiten Jahreshälfte 1944 rückte der Krieg näher, und in den letzten Kriegsmonaten erlebten ihn die Mädchen mit seiner ganzen Brutalität. Im Dezember 1944 und im März 1945 wurden Teile der Innenstadt bei Bombenangriffen schwer getroffen. Dem Einmarsch der Amerikaner am 9. April ging ein wochenlanger Artilleriebeschuss voraus.

"Mein Großvater wurde von einer Granate getroffen", erinnert sich Anni Trautwein. "Ich bin an der Hand meines Vaters durch die brennende Stadt gelaufen", erzählt Johanna Becker, die auch den hartnäckigen Widerstand der Wehrmachtssoldaten erlebte. "In den letzten Kriegstagen sahen wir auf der Weierstraße einen einzelnen deutschen Soldaten, der wie von Sinnen um sich schoss. Auf der Humperdinckstraße ist er dann gefallen." Die Familie Nöfer hatte einen Lebensmittelladen an der Ecke Weierstraße/Kaiserstraße.

Ursula Gass, die im Nachbarhaus groß wurde, hatte mit ihrer Familie die letzten Kriegsmonate auf dem Mühlenhof in Kaldauen verbracht; dort hielten sie ihren Bruder versteckt, einen fahnenflüchtigen Seekadetten - in einem Schrank. Als die Amerikaner im April Siegburg besetzten, sei die Erleichterung groß gewesen: "Als Kinder sind wir den Soldaten entgegengelaufen", sagt die 80-Jährige. Mit ein paar Brocken Englisch hätten sie die Amerikaner angesprochen: "How many watches do you have?" Sollte heißen: "Wie viel Uhr ist es?" Die Amerikaner seien bei den Kindern beliebt gewesen, hätten doch immer Kaugummi verschenkt, berichtet Anni Trautwein.

"Unser Besitz passte auf einen Leiterwagen"

Gisela Knorre kam 1947 mit ihrer Familie als Heimatvertriebene nach Siegburg. Die Familie stammte aus dem Egerland und lebte zwischenzeitlich in der Ostzone. Möglich wurde der Umzug in die Siegburger Weierstraße durch einen Wohnungstausch mit einem Bewohner, der in den Osten ging.

"Unser Besitz passte auf einen Leiterwagen", erinnert sich Gisela Knorre (79). Als Vertriebene seien sie nicht überall willkommen gewesen, sogar Feindseligkeit hätten sie erfahren. Langsam trug die Familie eine Wohnungsausstattung zusammen. "Bei allem Unglück haben wir aber auch sehr viel Unterstützung erfahren, für die ich heute noch dankbar bin." Da war zum Beispiel Kaplan Paul Moog - "ein Samariter", sagt Gisela Knorre.

Der Geistliche war es auch, der 1948 die Gründung des "Katholischen Siedlungswerks Siegburg e. V. Marienfried" anstieß. Die Gemeinschaft erwarb in Wolsdorf Flächen für eine Siedlung. Beim Bau packten die Siedler selbst an. Auch die Familie von Gisela Knorre ließ sich dort nieder. 1949 legte Kardinal Josef Frings den Grundstein des ersten Hauses.

Überhaupt blühte das kirchliche Leben ab 1945 wieder auf. "Dass in den Schulen wieder Kreuze aufgehängt werden durften, wurde als Zeichen der Freiheit wahrgenommen", sagt Andrea Korte-Böger. Die Siegburger Stadtarchivarin gibt beim GA-Zeitzeugengespräch am Mittwoch eine Einführung in die Nachkriegszeit.

Johanna Becker erinnert sich noch an die Primiz ihres Vetters Willi Moll am 1. April 1947 in Sankt Anno. Moll, der aus Siegburg stammte und in Porz zum Priester geweiht worden war, ging 1954 ins Ruhrgebiet. Heute ist er 91. Aber an seine Primiz in der Annokirche erinnere er sich noch gut, sagt er in einem Telefongespräch mit dem GA. Er erzählt von Pfarrer Albert Mecklenbeck, der ihn zu Hause abholte; von der voll besetzten Kirche; vom Kirchenchor, der mit dem Dirigenten und Organisten Gottfried Herkenrath die Messe gestaltete; auch die Prozession hat er vor Augen. Davon existieren noch Fotos. Sie zeigen junge, hagere Fahnenträger, die auch zwei Jahre nach Kriegsende noch unterernährt aussehen.

Blindgänger landete in der Küche

Als die Amerikaner am 9. April 1945 kamen, saß der Brückberger Willi Esser mit seiner Mutter daheim auf der Treppe. "Aus Richtung Troisdorf kam ein Jeep nach dem anderen. Sie hielten in unserer Siedlung vor den Häusern", erzählt der 77-Jährige. Das Wohngebiet war 1936 für Rhenag-Mitarbieter gebaut worden. Essers Vater war dort Buchhalter.

Die Familie wohnte an der Schlageterstraße, die heute "Freiheit" heißt. "Das Haus hatte den Krieg unbeschädigt überstanden. Nur einmal war ein Blindgänger bei uns in der Küche gelandet", so Esser. "Mein Großvater schnappte ihn sich und vergrub ihn im Garten."

Die Amerikaner konfiszierten kurzerhand Häuser für eigene Zwecke, auch das der Essers. "Wir hatten drei Stunden Zeit, das Nötigste zu packen. Wir sollten nach zwei Tagen wiederkommen, doch auch da wurden wir nur vertröstet", berichtet Willi Esser. So ging das Tage, Wochen, Monate. Am Ende waren es achteinhalb Jahre. Auf die Amerikaner folgten die Briten, dann kamen die Belgier - das Haus blieb beschlagnahmt.

Die Familie lebte in einer Wohnung an der Aulgasse, die meisten Habseligkeiten hatte sie zurücklassen müssen. "Meine Mutter war sehr resolut", sagt Esser. So stieg sie eines Tages ins eigene Haus ein, um heimlich Eigentum herauszuholen und mit einem Bollerwagen abzutransportieren. "Die Soldaten merkten nichts, die spielten Karten oder waren betrunken." Überhaupt hätten sie ganz schön gehaust; sie seien mit Motorrädern bis ins Wohnzimmer gefahren und hätten dort Öl gewechselt.

1953 bezogen die Belgier das "Camp de Vink" an der Luisenstraße. 58 beschlagnahmte Häuser gingen an ihre Besitzer zurück, darunter auch die Essers. Dazu gab es eine Entschädigung. Eine Kommission machte sich vorher ein Bild von den Häusern. "Meine Mutter nahm zum allgemeinen Erstaunen zur Übergabe einen Hammer mit", erzählt Willi Esser. "Damit zerschlug sie die Kloschüssel. 'Ihr glaubt doch wohl nicht, dass ich mich da draufsetze!', sagte sie uns." So wurde die Toilette auf die Liste der Dinge gesetzt, die während der Hausbesetzung kaputt gegangen und zu ersetzen waren.

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