GA-Interview mit Forscher Meinhard Miegel "Viele brauchen Geld, um zufrieden zu sein"

SIEGBURG · Forscher Meinhard Miegel liest am Montagabend im Stadtmuseum aus dem Buch "Hybris - die überforderte Gesellschaft". Susanne Haase-Mühlbauer sprach mit Gesellschaftswissenschaftler Meinhard Miegel.

 Ausgezeichnet: Meinhard Miegel erhielt für seine Werke den Hanns-Martin-Schleyer-Preis und den Theodor Heuss-Preis.

Ausgezeichnet: Meinhard Miegel erhielt für seine Werke den Hanns-Martin-Schleyer-Preis und den Theodor Heuss-Preis.

Foto: Denkwerk Zukunft

Hinter dem griechischen Wort Hybris, was so viel bedeutet wie Übermut oder Anmaßung, verbirgt sich die Bezeichnung einer extremen Form der Selbstüberschätzung. Höher, schneller, mehr? Sind das Maßstäbe der Tugend oder sind es Untugenden?

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, begab sich Meinhard Miegel auf die Spurensuche von Hybris in unserer Gesellschaft. Der Gesellschaftsforscher machte dabei einige verblüffende Entdeckungen. Aus seinem im Vorjahr veröffentlichen Buch "Hybris - die überforderte Gesellschaft" liest Miegel am Montag im Siegburger Stadtmuseum.

Anschließend stellt er sich der öffentlichen Diskussion. Der Eintritt ist frei. Über sein Buch, seine Forschungsergebnisse und persönliche Erkenntnisse sprach der Gesellschaftswissenschaftler mit Susanne Haase-Mühlbauer.

Herr Miegel, Sie benennen in Ihrem Buch verschiedene Hybris-Beispiele wie den Ikarus-Flug und die alttestamentarische Geschichte vom Turmbau zu Babel. In der Neuzeit finden Sie Hybris beim Bau des Berliner Flughafens und beim Projekt Stuttgart 21. Welches Beispiel für grenzenlose Selbstüberschätzung hat Anlass zum Buch gegeben?
Meinhard Miegel: Es gab kein spezielles Ereignis und auch keinen persönlichen "worst case". Vielmehr fußt das Buch auf meiner Arbeit als Gesellschaftswissenschaftler.

Im Buch geht es ja um den Wertewandel der grenzenlosen Selbstüberschätzung. Immer schneller, immer weiter, immer mehr - was noch bis zur Industrialisierung oft als Untugend angesehen wurde, gilt heute nicht selten als Tugend. Welche Bereiche sind denn heutzutage betroffen?
Miegel: Unser ganzer westlicher Lebensstil ist Ausdruck von Hybris. Vieles ist völlig überspannt. Besonders fragwürdig ist jedoch, dass gesellschaftlicher Status und persönliche Zufriedenheit fast ausschließlich an wirtschaftlichen Erfolg geknüpft werden. Vor 200 Jahren war das anders. Da sangen die Menschen: "Was frag' ich viel nach Gut und Geld, wenn ich zufrieden bin." Heute ist es genau umgekehrt. Um zufrieden zu sein, bedürfen die meisten einer Menge Gut und Geld.

Ist es denn ein Fehler, nach den Sternen zu greifen?
Miegel: Das kommt auf die Sterne an. Problematisch wird es für eine Gesellschaft, wenn es für sie nur noch diesen einen Leitstern gibt: wirtschaftlicher Erfolg, Profit, Geld.

An welcher Stelle lässt sich denn die Notbremse ziehen? In Familie, Politik oder dem eigenen Gewissen?
Miegel: Veränderungen beginnen immer in den Köpfen einzelner. Werden dann aus den wenigen allmählich viele, kommt ein Paradigmenwechsel in Gang, dem irgendwann auch die Politik Rechnung tragen muss. Politik setzt Ideen um, gibt sie aber zumeist nicht selbst vor.

Befinden wir uns denn aktuell bereits im Wandel?
Miegel: Ich denke schon. Jedenfalls sehe ich eine ganze Reihe von Entwicklungen, die einen neuen Wertekanon für das 21. Jahrhundert erwarten lassen.

Ist das dann nicht eine Rückbesinnung auf den alten Katalog, den es bereits vor der Industrialisierung gab?
Miegel: Nein, das wäre eine Wiederholung von Geschichte, die es bekanntlich nicht gibt. Der neue Wertekanon muss und wird auch auf den Erkenntnissen und Erfahrungen dieses Jahrhunderts gründen.

Welche Erkenntnis haben Sie zu ihren eigenen höchsten Werten gewonnen?
Miegel: Für mich ist es sehr wichtig, in meinen Entscheidungen so unabhängig wie möglich sein zu können. Diese Unabhängigkeit war und ist mir manches persönliche Opfer wert.

Ihr Buch zur Hybris ist ja bereits im vergangenen Jahr erschienen - wie aktuell ist das Thema ein Jahr danach?
Miegel: Es ist unverändert aktuell. Denn keines der großen Probleme wurde seitdem wirklich gelöst. So hat Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Beginn des Jahrzehnts erklärt, die Art, wie wir wirtschafteten, zerstöre die Grundlagen ihres eigenen Erfolgs, sprich: unsere Lebensgrundlage. Dramatischer geht es doch kaum. Was aber hat sich seitdem geändert? Ich fürchte, nicht annähernd genug.

Und die Flüchtlingssituation: Wie weit spielt die Hybris dabei eine Rolle?
Miegel: Viele haben geglaubt, eine sich seit Langem anbahnende Entwicklung souverän steuern zu können. Das war von Anfang an ein Irrtum, eine maßlose Selbstüberschätzung. Denn wir stehen ja erst am Anfang von Migrationsströmen, die nicht zuletzt aufgrund der gegenläufigen europäischen und globalen Bevölkerungsentwicklung noch jahrzehntelang anhalten werden. Das wird Europa umpflügen. Doch wer ist darauf vorbereitet? In Deutschland wurde vor Jahren einmal die Frage nach einer Leitkultur gestellt. Beantwortet wurde sie bis heute nicht.

Haben Sie eine Lösung?
Miegel: Aufgrund der globalen Entwicklungen gibt es dafür gar keine wirklichen Lösungen. Milliarden von Menschen werden in den nächsten Jahrzehnten zur Weltbevölkerung hinzukommen, und alle streben nach möglichst guten Lebensbedingungen. Sie zu erfüllen wird jedoch immer schwieriger. Allerdings gibt es verträglichere und unverträglichere Entwicklungstrends. Verträglicher wäre für mich - zumindest für die vorhersehbare Zukunft -, wenn jene, die tatsächlich an Leib und Leben bedroht sind, unkompliziert bei uns Aufnahme finden und für alle anderen klare Regeln geschaffen werden, die nicht nur ihren, sondern auch den Interessen der Einheimischen gerecht werden. Das aber heißt, wir müssten uns ohne Wenn und Aber zu einem Einwanderungsland erklären, das auch die Möglichkeit hat, wenn nötig, den Zuzug zu begrenzen. Der unverträgliche Entwicklungstrend wäre, alles einfach weiterlaufen zu lassen wie bisher.

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