Firma Walterscheid Vom Mühlengraben zum Weltkonzern

SIEGBURG · So manch ein Konzern hatte seinen Ursprung in einer Garage. So ähnlich war es auch bei der Firma GKN Walterscheid. Gegründet 1919 in einer Waschküche an der Mühlengasse in Siegburg, ist der Zulieferer für Automobil-, Landmaschinen- und Flugzeugindustrie längst international verzweigt.

 Industrie am "Hohen Ufer": Die Firma Walterscheid in Siegburg Anfang der 70er Jahre, rechts daneben die Likörfabrik Rückforth. Das Areal wurde später von der Firma Lüghausen genutzt, zuletzt war es jahrelang eine Brache. Dort entstehen zurzeit neue Wohnhäuser.

Industrie am "Hohen Ufer": Die Firma Walterscheid in Siegburg Anfang der 70er Jahre, rechts daneben die Likörfabrik Rückforth. Das Areal wurde später von der Firma Lüghausen genutzt, zuletzt war es jahrelang eine Brache. Dort entstehen zurzeit neue Wohnhäuser.

Neben Siegwerk und Kautex gehört Walterscheid damit zu jenen Unternehmen, die in Siegburg gegründet wurden und es zu Weltgeltung gebracht haben. Beim Zeitzeugengespräch des General-Anzeigers am Mittwoch, 27. Mai, berichten ehemalige "Walterscheider" über den Aufstieg ihrer Firma nach dem Zweiten Weltkrieg. Thema des Abends im Stadtmuseum ist die "Siegburger Arbeitswelt anno dazumal".

Frühjahr 1944. Noch ist der Krieg in Siegburg nicht angekommen. Rudi Henseler sucht eine Lehrstelle. Er kennt jemanden von der Firma Walterscheid, der kann ihn vermitteln. "Ich habe dort am 1. April 1944 angefangen", sagt der heute 85-Jährige, der die beiden großen Väter des Unternehmens persönlich kennenlernt: Jean Walterscheid und dessen Nachfolger und Adoptivsohn Bernhard Walterscheid-Müller.

Ersterer hat 1919 in eben jener Waschküche an der Mühlengasse angefangen, Fahrradteile herzustellen - unter anderem mit einer Drehbank aus Restbeständen der zerschlagenen Preußisch-Königlichen Geschossfabrik. 1934 folgt der Umzug in die Hansensmühle an der Bachstraße, die Firma baut inzwischen Hinterachswellen. Im Jahr darauf tritt Bernhard Müller ins Unternehmen ein, bereits 1943 - da ist er gerade einmal 25 - wird er Prokurist. "Als ich Lehrling im Verwaltungsbereich wurde, hatte er schon das Sagen", erinnert sich Henseler. Er wird von Müller angelernt. Manchmal kein Zuckerschlecken: "Der hat mir ganz schön Feuer gegeben. Dafür war ich ihm später sehr dankbar."

Das Unternehmen baut zu dieser Zeit Panzerwellen. Der junge Henseler erledigt Botengänge in Siegburg, oft mit dem Rad. Als er einmal zu Fuß unterwegs ist, fallen bei einem Luftangriff Bomben auf die Stadt. Auch das Werksgebäude am Mühlengraben wird getroffen. "Mein Fahrrad lag hinterher verbeult auf der Straße. Es dachten alle, es hätte mich erwischt." Doch der junge Mann hat den Angriff überlebt. Er bleibt dem Unternehmen treu bis zu seinem Ruhestand. Insgesamt 51 Jahre lang.

Die Nachkriegszeit sei schwierig gewesen, erinnert sich Henseler. "Wir waren finanziell in der Klemme." Doch Müller, seit seiner Adoption 1952 Walterscheid-Müller, hat das richtige Näschen. Er holt Kurt Schroeter ins Unternehmen, der eine landwirtschaftliche Gelenkwelle - bald die landwirtschaftliche Gelenkwelle - entwickelt hat. "Das war die Sensation bei der Landwirtschaftsausstellung 1953. Auch der Tüv war begeistert", berichtet Henseler. Im selben Jahr beginnt in Siegburg die Serienproduktion des Erfolgsmodells, zudem übernimmt Walterscheid-Müller in Kiel den Hauptkonkurrenten auf dem Gebiet von Pkw-Achswellen. Es sind erste, aber entschlossene Schritte auf dem Weg zu einem international verzweigten Konzern. Mit der Produktion von Rohrverschraubungen wird später ein zusätzliches Standbein geschaffen.

"Trotz der wahrhaft stürmischen Aufwärtsentwicklung des Unternehmens, das heute außer den Verkaufsvertretern etwa 400 Mitarbeiter beschäftigt, konnte ein echter Betriebsfamiliengeist gepflegt und ausgebaut werden. Mit großen Betriebsinteresse arbeitet jeder an seinem Platz", heißt es in einer Firmenbroschüre von 1956.

War es tatsächlich so? Rudi Henseler und seine Kollegen Karl-Heinz Wiesgen und Friedhelm Pützstück nicken. Sie erinnern sich an den Werkschor, die Werkswohnungen, den Werkssport, die Werkserholungsheime, an die Betriebsrente und das freie Tanken auf dem Werksgelände. "Walterscheid-Müller war unglaublich sozial eingestellt", sagt Wiesgen, der 1959 als Kontrolleur im Wareneingang anfängt und 1995 als Marketingplaner der Firma aufhört. "In den Ferienheimen gab es Essen und Trinken umsonst, und man bekam sogar ein Taschengeld."

Der Firmenchef ist energisch, sucht aber die Nähe zu den Mitarbeitern. "Manchmal, wenn Überstunden gemacht werden mussten, stellte er sich auf eine Kiste und erklärte die Situation", erinnert sich Friedhelm Pützstück. "Er konnte motivieren." Um Vorbild zu sein, packt Walterscheid-Müller gelegentlich selbst an der Drehbank an. Zu seinem Geburtstag gibt er Bier, Schokolade und Zigaretten aus. Ist er nach Konferenzen gut gelaunt, setzt er sich ans Klavier. Bei Fußballweltmeisterschaften lässt er Fernseher in der Produktionshalle aufstellen. Und: Er bleibt ehrgeizig. "Als er geschäftlich in Frankreich zu tun hatte, bekam er einen Dolmetscher", sagt Wiesgen. "Das gefiel ihm nicht. Deshalb klinkte er sich für vier Wochen aus, um Französisch zu lernen. Als er wieder kam, konnte er es."

Bald wird es der Firma am Mühlengraben zu eng. Bereits 1955 entsteht eine neue Werkshalle in Lohmar. Weil es in Siegburg an großen zusammenhängenden Industrieflächen fehlt, verlagert sich das Unternehmen bis Anfang der 80er Jahre Stück für Stück in die Nachbarstadt, wo es heute noch Gelenkwellen produziert.

Henseler ist über viele Jahre für die Finanzen zuständig und bleibt seinem Chef und einstigen Ausbilder verbunden. "Er hatte später durch die Verschiebung von Mehrheitsanteilen nicht mehr das Sagen. Das hat ihm und auch mir weh getan." In den 70er Jahren gewinnt die britische GKN-Gruppe die Mehrheit in der Uni-Cardan AG, die von Walterscheid-Müller mit anderen Firmen gegründet worden ist. Der Unternehmer, auch verdienstvoller Heimatforscher und Lohmarer Ehrenbürger, bleibt bis zum Ruhestand Vorstandsvorsitzender. Er stirbt 1991 mit 73 Jahren an einem Herzinfarkt: im Urlaub auf Sardinien.

Die Zeitzeugengespräche - Der General-Anzeiger lädt ein

Um die Siegburger Arbeitswelt anno dazumal geht es am Mittwoch, 27. Mai, beim vierten Zeitzeugengespräch des General-Anzeigers im Stadtmuseum Siegburg (Markt 46). "So hab' ich's gesehen", lautet das Motto. Auf dem Podium berichten ehemalige Mitarbeiter von Firmen wie Phrix, Cantulia und Walterscheid, wie sich vor Jahrzehnten der Arbeitsalltag in der Kreisstadt gestaltete. Stadtarchivarin Andrea Korte-Böger gibt zuvor eine Einführung. Der Eintritt ist frei, Beginn ist um 19 Uhr. Es empfiehlt sich, einen Platz zu reservieren: unter siegburg@ga.de oder (ab Dienstag) unter Tel. 0 22 41/1 20 12 00.

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