Glosse So gesehen - Drei Promille Brauchtum

Ich lege großen Wert auf Nachtruhe. Sehr großen Wert. Nur in der Nacht zum 1. Mai mache ich eine Ausnahme. Jedenfalls habe ich mir das am Montagabend fest vorgenommen. Denn vor genau einem Jahr hatte ich, als mich gegen halb drei ein schrilles Kreischen aus dem Schlaf riss, ein besonderes Erlebnis.

Ich war mit den Gepflogenheiten auf dem Land noch nicht so vertraut. Als ich deshalb verärgert in T-Shirt und Unterhose auf die Straße stampfte, um die Ruhestörer zur Räson zu bringen, stolperte ich über sechs junge Herren, zwei leere Bierkästen, einen geschmückten, mehrfach zurechtgekürzten Maibaum und nicht zuletzt über eine Kettensäge.

Dieser Anblick änderte meine Stimmung schlagartig. Statt zu schimpfen, bot ich den Jungs mein letztes Kölsch an, das im Kühlschrank lag, trottete zurück ins Bett und beruhigte mich mit dem Gedanken, dass das Partygegröle draußen eigentlich ein liebenswerter Brauch ist, den man einfach MÖGEN MUSS.

Dabei half auch eine Rechnung: Wenn man in 364 Nächten (im Schaltjahr sogar 365!) Ruhe genießt, kann man eine opfern. Das sind, Maibaum-Aufsteller können diese Zahl nach ihrem Rausch sicher einordnen, nicht einmal drei Promille.

Jetzt fragen Sie sich, ob ich auch in der vergangenen Nacht Toleranz bewiesen habe? Nun, da hilft wohl nur ein Blick auf www.ga.de. Sollten Sie dort die Schlagzeile "Kettensägen-Massaker in Flerzheim" finden, habe ich wohl meine letzte Ruhe gefunden.

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